Nur so ist es verständlich . . .
. . . und damit meine ich die Wechselwirkung von Guldas Interpretation des 'Alten Testaments' und der Aufnahmetechnik ' und nicht etwa, dass man das 'Wohltemperierte Klavier' nur so spielen könnte.
Warum diese seltsame Überschrift? Ganz einfach: Bis jetzt war es bei allen(!) Digitaltransfers der verschiedenen CD-Ausgaben nicht möglich zu erkennen, was Gulda klanglich bei seinem Spiel beabsichtigt hat, was der Aufnahme geschuldet ist oder wo der CD-Transfer Veränderungen und Verfremdungen erzeugt hat.
Erst in dieser Ausgabe hier wird seit der LP-Veröffentlichung wieder (und noch eindringlicher!) klar, dass es bei dieser zu Recht berühmtem Produktion tatsächlich keine Mängel, Fehler und 'Unmusikalitäten' gibt, sondern nur ein durch und durch schlüssiges Konzept. Dazu später mehr.
Die Produktion stammt aus dem Jahr 1972 (WK1) und 1973 (WK2) und wurde im Studio durch den Produzenten von MPS Brunner-Schwer in Villingen-Schwenningen aufgenommen. Sie entstand (analog, was fürs Hören keinerlei Bedeutung hat) in einer Zeit, als es noch wenige Gesamteinspielungen des Wohltemperierten Klaviers gab: Edwin Fischer (1936), Wanda Landowska (1949,1951+1954), Rosalyn Tureck (1952+1953), Glenn Gould (1962-1971).
EIN PAAR BEOBACHTUNGEN, EMPFINDUNGEN UND GEDANKEN ZUR INTERPRETATION (WK1)
Ein schlichtes in sich ruhendes C-Dur Präludium in entspanntem Tempo mit sanftem Leuchten.
Ein im ersten Teil nebelverhangenes c-moll Präludium bis zum Takt 28, dann das plötzliche (von Bach notierte!) Presto quasi als Ausbruch der vorher verhüllten Verzweiflung. Natürlich ist das eine romantisch (überfrachtete) Beschreibung. Aber hören letztlich nicht alle Menschen Musik mit dem Herzen und der Resonanz der eigenen Lebenserfahrung?
Die cis-moll Fuge wird im Forte klar mit allen Fugeneinsätzen quasi als Motto hingestellt, dann ab dem Takt 36 eine fließendere weichere Bewegung, die sich bis zum Schluss wieder zum Forte steigert. Bach hat natürlich keine Dynamik angegeben, aber was kann alles zum Verständnis der Musik helfen '
Das d-moll Präludium rasch und flüchtig, der Unterschied der Einleitung des Es-Dur Präludiums zu dem fugierten choralartigen Teil ab Takt 10 erscheint wie eine andere Welt: eine langsame Fuge als Präludium zu der bewegteren 'wirklichen' Fuge.
All das ist bei Gulda äußerst plastisch erfahrbar. Extrem unterschiedliche Musik von tiefster kontemplativer Versenkung (Präludium es-moll) bis zu rhythmisch frechen Präludien. Und die äußerst klar durchsuichtigen Fugen, die auch von der Empfindung eine Kosmos umschließen. Ich vermeide bewusst die gerade bei Gulda so oft 'missbrauchten' Wörter wie 'grooven' oder 'swingen', weil Gulda hier nichts 'verjazzt'.
Alles ist einfach Bach und der Musiker hält sich mit Eigenwilligkeiten im Grunde ganz zurück. Alles, was an Besonderem Aufhorchen lässt, erklärt sich bei näherer Betrachtung auch aus der Musik (in der ja kaum genauere Spielvorgaben vorhanden sind). Natürlich LEBTE Gulda mit Klassik UND Jazz und natürlich hat sich das gegenseitig angeregt. Aber wenn hier etwas davon spürbar ist, dann in ganz sublimierter Form.
Hie und da ist für meine Ohren als Farbe in der Oberstimme gut ein 'una corda' zu hören, also der Einsatz des rechten Pedals.
WECHSELWIRKUNGEN VON INTERPRETATION UND AUFNAHME
Was von den ersten Tönen an auffällt, ist das intime und ganz direkte des Klangs und der Aufnahmetechnik. Der kleine Aufnahmeraum (kein akustisch 'toter' Studioraum!) tritt durch die extrem nahe Mikropositionierung eigentlich gar nicht als solcher in Erscheinung. Zudem höre ich wegen der trockenen Akustik eine Stumpfheit des Klavierklangs, die sich in sehr leisen Passagen durch ein sehr zurückgenommenes nebliges Klangbild bemerkbar macht.
Im Forte und stark Polyphonen kann der sehr nah aufgenommene Klavierton (quasi hat der Hörer seine Ohren 'im' Flügel) schier klaustrophobische Zustände hervorrufen. Alles stürzt räumlich sehr gedrängt quasi auf die Ohren ein - allerdings in diesem CD-Transfer in einem erträglichen und auch sinnvollen Maß!
Die dynamische Spanne (Lautstärkenunterschiede) ist bei Guldas Aufnahme für den Hörer im WK extrem groß, was z.B. beim Übergang der sehr zarten Schlusses der Fis-Dur Fuge zum fis-moll Präludium fast schockierend auffält. ich betone FÜR DEN HÖRER, weil Gulda sich in ganz normalem Rahmen zwischen (allerdings sehr zartem!) Pianissimo und ordentlich kräftigem Forte gehalten hat. Da die Intensität des Schalls aber mit der Entfernung ins Quadrat abnimmt und die Klangverteilung im Raum (Raumakustik) eine noch größere Rolle spielt, fällt die äußerst nahe Positionierung der Mikrophone bezüglich Lautstärkeunterschiede natürlich besonders stark ins Gewicht.
All das hat Gulda (der - wie sein Zunftkollege mit den einen anderen Buchstaben - sehr viel Aufmerksamkeit dem Abhören der Aufnahmebänder gewidmet hat, um zu verändern, korrigieren, anders anzusetzen) wohl mit einbezogen und bedacht! Und das ist - ich weiß, dass ich mich wiederhole - hier zum ersten Mal auf CD zu hören:
Es dreht sich also nicht darum, ob diese CD audiophil etwas besser oder schlechter klingt, sondern darum, endlich zu hören, was Gulda mit seiner Interpretation des Wohltemperierten Klaviers zum Klingen bringen wollte ' und zum Klingen gebracht hat!
REMASTERING
Bis jetzt wurde bei allen CD-Veröffentlichungen der Gulda Einspielungen bei MPS mit Komprimierung und Klangfiltern gearbeitet. Wahrscheinlich vertraute man nicht aufs Konzept (oder wollte es der Zuhörerschaft nicht 'zumuten') und meinte die Lautstärkeunterschiede ausgleichen und die eher stumpfe Akustik abdämpfen (wegen der Diskanttöne im Forte) oder aufhellen (wegen des Gesamtklangs) zu müssen.
Solch ein Vorgehen ist Unsinn und das Klangergebnis verfälscht das Original so sehr, dass man den Eindruck einer wahrlich groben unmusikalischen Schallplattenproduktion bekommen konnte.
Diese Ausgabe hier rückt die großartige Arbeit von Friedrich Gulda und dem Produzenten Brunner-Schwer wieder ins rechte Licht.
Es gibt an dem perfekten Remastering schlicht NICHTS auszusetzen!
EDITORISCHES
Die Veröffentlichung auf vier CDs erscheint als stabile Klappbox (mit Goldprägedruck, kein Kunststoff ' alles sehr wertig und schön gefertigt!). Es gibt ein Vorwort zu dieser Neuausgabe, einen Kommentar des Produzenten der Neuauflage Thorsten Wyk und den originalen Plattentext mit einem Kommentar Friedrich Guldas und den Ausführungen von Peter Schinnerling (1972-1973) zu den beiden Bänden des WK. Das Coverbild ist auf der Deckseite des Textes in voller Größe abgedruckt. Zudem sind schöne S/W-Fotos abgedruckt.
Ach ja: das Textheft ist übrigens eingeklebt, somit ist die Produktabbildung mit dem aufgeklappten Heft im Vordergrund nicht ganz richtig ...
Um es ganz kurz zu sagen: besser kann man das alles nicht machen !
LUST AUF MEHR . . .
Nun hoffe ich sehr auf eine entsprechende Wiederveröffentlichung der Debussy Préludes, damit auch hier die Interpretation Guldas (wieder) 'verständlich' und stimmig erscheint.
Ein MUSS für alle, die diese Einspielung schon von Platte kennen (bzw. von CD zu kennen glauben!) - und für alle, die sich intensiv mit Bachs WK 1+2 auseinandersetzen wollen.
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Über ein Feedback (Bewertung JA oder NEIN, Kommentar - wie und welcher Art entscheiden natürlich SIE!) zu meinen Bemühungen des Rezensierens würde ich mich freuen! Lesen Sie gern auch andere meiner weit über 200 Klassik-Besprechungen mit Schwerpunkt "romantische Orchestermusik" (viel Bruckner und Mahler), "wenig bekannte nationale Komponisten" (z.B. aus Skandinavien), "historische Aufnahmen" und immer wieder Interpretationsvergleiche und für den Kenner bzw. Interessierten meist Anmerkungen zum Remastering!