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Hörrohr
26. November 2019
Das Tier am Klavier
Nun, werte Klassikgemeinde, dies hier ist wohl eher nichts für die Freunde des gepflegten, "kultivierten" Beethoven-Spiels, die gewohnt sind (und es so wollen), dass noch jede Zweiunddreißigstel-Pause vergeistigt und in höchstem Maße verfeinert hin und her gewogen wird, bis sie in der Interpretation den ihr zustehenden tieferen "philosophischen" Sinn bekommt. Oder anders gesagt: Dies hier ist wohl definitiv nichts für die Anhänger einer Liga, in der sich Größen wie Brendel oder Gilels (oder wie sie alle heißen mögen) befinden.
Dies hier ist allerdings sehr wohl etwas für die Freunde der klaren, direkten, ungefilteren Ansprache. Yves Nat setzt sich ans Klavier und spielt einen Beethoven, dass es eine wahre Freude ist. Man glaubt sogar, darin den Komponisten und seine Persönlichkeit (launisch, aufbrausend, wild, oft auch roh) viel eher zu erkennen als in all diesen behutsam ausbalancierten, abgezirkelten Einspielungen internationaler Tastenstars. Denn der Beethoven von Yves Nat fliegt einem regelrecht um die Ohren. Die Tempi sind durchweg schnell, teilweise sehr schnell (auch in den langsamen Sätzen), die Forte-Schläge und -Passagen sind oft beinahe brutal, ein die Konturen verwischender Pedaleinsatz ist kaum vorhanden. Man denkt an Gulda, an Schnabel (was wahrlich keine schlechten Verwandten sind), und doch ist Nat anders. Weil er nicht stur motorisch spielt wie Gulda, weil er Schnabel technisch überlegen ist.
Dies ist eine der ungekünstelten, unverstelltesten, ungezügeltsten Beethoven-Gesamtaufnahmen weit und breit und in dieser Form vielleicht sogar einmalig. Und doch: Wenn man bereit ist, sich auf sie einzulassen, wird man feststellen, wieviel tiefes Verständnis und auch Lyrik in ihr steckt. Selbst die Interpretion der drei letzten Sonaten, die man nun wirklich wohl kaum anderswo so zu hören bekommt, sind in diesem Tempo absolut stimmig.
Nichts für tiefschürfende Genusshörer in Abendgarderobe also. Aber nach all diesen Jahrzehnten noch immer einfach aufregend und ungemein frisch. Muss es nicht eigentlich so sein?