4 von 5
JAW-Records
11. Mai 2016
Gesamteindruck:
5,0 von 5
Künstlerische Qualität:
5,0 von 5
Repertoirewert:
4,0 von 5
Tatsächlich eine Entdeckung
Wie andere Rezensenten hier gebe ich gern zu, dass ich nun erst nach Jahrzehnten der Entdeckungsreise durch die Klavierliteratur, der Beschäftigung mit Pianisten (eine andere Entdeckung war für mich von einem knappen Jahr Guiomar Novaes) und laufenden eigenen Klavier-Aufnahmeprojekten (aktuell 57 CDs JAW-Records) auf den Italiener Sergio Fiorentino (1927-1998) gestoßen bin.
Fiorentinos "Karriere" weist Brüche und lange Pausen auf, was sich auch an seiner Hinterlassenschaft an Aufnahmen zeigt. Eine frühe Aufnahmetätigkeit in England von 1953 bis 1966 mit einigen äußerst hitzigen Aufnahmen mit unglaublichem pianistischem Feuerwerk (schon damals alles kontrolliert und traumwandlerisch gestaltet, z.b. die Chopin Scherzi) und einer wunderbaren Einheit von Klarheit des Vortrags des Werks, Klangsinn, Virtuosität (ohne je vordergründig zu wirken) und oft schon stillerer Phantasie. Weitere dieser Studioaufnahmen aus den 60zigern aus England hat das Label APR zum Teil auf 6 einzelnen CDs veröffentlicht hat ("Sergio Fiorentino - the early Recordings" - Vol.1-6).
Die späten digitalen Studioaufnahmen aus den 90zigern legen tendenziell den Schwerpunkt auf das Innere (oder innerlich Erlebte) der Werke, ohne wo es nötig ist Virtuosität vermissen zu lassen. Einzig die klanglichen Möglichkeiten haben von den frühen zu den späten Aufnahmen minimal nachgelassen.
Besonders erstaunlich finde ich, dass Sergio Fiorentino (den Horowitz und Michelangeli sehr geschätzt haben) bei allen hier vorgestellten Komponisten und Werken Wesentliches zu sagen hat! Das Fehlen eines pianistisch-selbstherrlichen Stils, das Unaufgeregte und das Vermeiden allen aufgeblähten Effekts in Agogik und Tempi und dennoch die Wärme und Weisheit einer leicht romantischen phantasievollen Spielweise lässt den ganz eigenen Zauber jedes Stücks erleben. Bach, Schubert (besonders D 664 und D 537!), Schumann (C-Dur Phantasie!), aber auch Franck (ganz wichtige Einspielungen! lassen sie sich von der tendenziösen schlechten Rezension zur APR-VÖ nicht abschrecken!), Liszt (wer spielt die h-Moll Sonate schon so zurückhaltend virtuos?), Rachmaninoff (den Fiorentino als Pianist verehrte), Scriabin oder Prokofiev sind Offenbarungen!
Diese hier vorliegende CD-Box fasst die neun APR CDs (Fiorentino Edition Vol.1-9) in eine Box zusammen plus eine weitere zehnte CD. Alle diese Aufnahmen wären ohne Ernst Lumpe und sein Engagement nicht entstanden - herzlichen dank diesem Deutschen Lehrer. Der Klang der Aufnahmen ist gut, die APR-CDs klingen (obwohl man meint, dass bei einem Digitaltransfer nichts verloren gehen sollte) etwas weicher und runden und auch mehr Stereo. Der Unterschied ist da und im Vergleich klar hörbar, aber diese Einzel-CDs (werden nicht mehr von APR angeboten) sind auch insgesamt gesehen ein Vielfaches teurer. Für den Neugierigen empfehle ich, zu dieser Box hier doch eine APR als Vergleich zu versuchen.
Wer es zu Beginn des Kennenlernens ganz aufregend haben möchte und wen eine teilweise eingeschränkte Klangqualität (nicht immer, der Bach klingt hervorragend!) nicht stört. der sollte vielleicht mit der anderen 10-CD Box von Piano Classics mit den frühen Aufnahmen starten.
WARNUNG:
Das Label "Concert Artist" (CACD) vertreibt ebenfalls Fiorentino CDs - ist aber mit Vorsicht zu genießen. Es ist nicht überall klar, ob wirklich auch Fiorentino spielt, der Klang ist sehr unterschiedlich und es sind CD-Rs (also gebrannte CDs). Auch wenn das Programm reizt (Mozart, Beethoven, Chopin) - unbedingt die Finger davon lassen . . .
FAZIT:
Unbedingt Kennenlernens wert! Ob nun in der eher verinnerlichen Sicht dieser Piano Classics 10-CD Box "The Berlin Recordings", oder den 6 CDs von APR "Early Recordings" (pianistisch grandios und sehr ordentlich aufgenommen) oder der Piano Classics 10-CD Box "Early recordings 1953-1966": Alle CDs des Pianisten und Musikers lassen den unvoreingenommenen Hörer die gespielten Werke quasi neu erleben. Die VÖs von APR sind qualitativ optimal, mit minimalen Abstrichen die von Piano Classics auch absolut ihr Geld wert!
- - - - -
Über ein Feedback (Kommentare) zu meinen Bemühungen des Rezensierens würde ich mich freuen! Lesen Sie gern auch andere meiner über 300 Klassik-Besprechungen mit Schwerpunkt "romantische Orchestermusik" (viel Bruckner und Mahler), "wenig bekannte nationale Komponisten" (z.B. aus Skandinavien), "historische Aufnahmen" und immer wieder Interpretationsvergleiche und für den Kenner bzw. Interessierten meist Anmerkungen zum Remastering!