5 von 5
KlpB
Top 100 Rezensent
11. August 2017
Gesamteindruck:
4,0 von 5
Künstlerische Qualität:
5,0 von 5
Repertoirewert:
4,0 von 5
Eine immer noch anregende Gesamteinspielung
Mein Eindruck im einzelnen:
1. Sinfonie: wunderbar aufgebauter erster und zweiter Satz, differenziert und organisch, im Klang auffallend Brahms-nah; Scherzo: atemlos; Finale, nicht ganz so verhetzt, aber immer noch eine Spur zu pauschal flott, um das bis in Satz 1 und 2 Entwickelte überzeugend zu krönen; man höre hier zum Vergleich Norrington / Stuttgart:
2. Sinfonie: hätte ideal gelingen können, wenn der Maestro aus den Ecksätzen Tempodruck herausgenommen hätte;
3. Sinfonie: Kopfsatz eine Spur helltönend "klassisch", die Mittelsätze sehr schön, das oft nur so mitlaufende "Nicht schnell" geradezu ideal; im Finale mindert die das polyphone Stimmengeflecht reduzierende Gegenüberstellung von Violin-dominierten und Blechbläser-dominierten Passagen die große Steigerungswirkung, die von diesem Finale ausgehen kann (vgl. Levine oder Bernstein);
4. Sinfonie: in beiden konzeptionell und zeitlich nur wenig differierenden Einspielungen (Berlin 1971 Studio, Wien live 1987) grandios, insbesondere durch die große Verbreiterung im Durchführungsabschnitt des Finales schlüssige, keine Sekunde nachlassende Sicht auf das Werk.
Von diesem Atem und persönlichen Engagement des Dirigenten profitiert auch die konkurrenzlos gut eingespielte Sinfonietta "Ouvertüre, Scherzo und Finale".
Karajan läßt Schumanns Sinfonien absolut angemessen von mindestens 100 Musikern musizieren. Das hat Tradition bei Furtwängler, der nach einer Notiz des Aufnahmestudios im Mai 1953 mit den Berliner Philharmonikern in der Formation von "104 Herren" zu seiner berühmten Einspielung der Vierten antrat. Im Unterschied zu Bernstein besetzt Karajan nicht nur alle Holzbläserstimmen doppelt, sondern auch die Trompeten, eine der drei Posaunenstimmen, die (nur) zwei Hornstimmen der zweiten, anscheinend aber auch die vier in der vierten Sinfonie in der Berliner Version. Entsprechend stockt er bei den Streichern auf (bei Bernstein 60, 64 geringfügig mehr). Mit diesen zusätzlichen Reserven stellt Karajan Schumanns Tetralogie als extreme "Finalsinfonien" heraus, was sie fraglos - und gänzlich konträr zu jenem in die Jahre gekommenen Bild des Komponisten als eines labilen Temperaments - sind. In der 4ten gelingt Karajan dies darzustellen wie kaum einem anderen, in den anderen geht sein Kalkül aus unterschiedlichen Gründen nur mit Abstrichen auf.
Vom Timbre ist mir Karajans Schumann nicht immer unabhängig genug vom tänzerisch Treibenden seiner Haydn-Beethoven- am einen und seidigen Glanz seiner Brahms-Auffassung am anderen Ende. Schumann bewahrt gewiß von jenem etwas und greift diesem oft voraus, aber seine Musik geht nie darin auf. Es ist spannend zu verfolgen, wie der große Dirigent sich zwischen zwei Klangwelten, die ihm wie die Muttersprache vertraut sind, seinen Weg zu Schumann sucht.