In "Der goldene Sohn" erzählt die indisch-kanadische Autorin Shilpi Somaya Gowda die Geschichte des jungen indischen Arztes Anil Patel, seiner Freundin Leena und ihrer Familien. Gegliedert ist das Buch in vier Teile, die jeweils etwa 100 Seiten umfassen, sowie Kapitel von angemessener Länge. Der erste Teil beginnt mit Anils Umzug von Indien nach Texas im Alter von 23 Jahren, kurz nachdem er sein Medizinstudium in Ahmedabad in Westindien, beendet hat. Von nun an wird er am Parkview Hospital in Dallas arbeiten und dort seine Zeit als Assistenzarzt absolvieren.
Durch einige Rückblenden wird auch von Anils Kindheit berichtet. Damals waren er und Leena, deren Eltern ein beschiedenes aber glückliches Leben als Nachbarn der reichen Patels führten, sehr eng befreundet. Als Jugendliche, in deren Alter es sich in ihrer Gesellschaft nicht mehr ziemt, dass gleichaltrige Jungen und Mädchen ihre Freizeit gemeinsam verbringen, werden sie dann aber immer mehr voneinander getrennt, sodass sie einander nach und nach aus den Augen verlieren. Die Arbeit im Krankenhaus in den USA stellt sich für Anil ganz anders dar, als er sie sich vorgestellt hatte. Während seines ersten Jahres am Parkview Hospital wirkt er häufig total überfordert.
Währenddessen beginnen in Panchanagar Leenas Eltern früh damit, nach Heiratskandidaten für ihre Tochter Ausschau zu halten. Leena gefällt das Leben im Haus ihrer liebevollen Eltern, jedoch möchte sie keine wirtschaftliche Belastung für sie darstellen. Die Wahl fällt bald auf einen Mann namens Girish, dessen Familie eine hohe Mitgift verlangt, obwohl dieser Brauch in Indien mittlerweile eigentlich gesetzlich verboten ist. Im Haus von Girishs Familie passiert Leena viel Schlimmes. Von ihrem Ehemann wird sie die meiste Zeit über ignoriert, sie muss arbeiten wie eine Sklavin und von ihrer Schwiegermutter und ihrer Schwägerin Rekha wird sie beleidigt und grausam misshandelt, obwohl sie alles tut, um ihnen zu gefallen. Leenas einziger Lichtblick sind Rekhas Kinder Ritu und Dev.
Das Buch ist sehr flüssig geschrieben, was, zusammen mit der Tatsache, dass mir das Schicksal von Anil und Leena wirklich naheging und die beiden mir oft Leid taten, dazu führte, dass ich es kaum aus der Hand legen konnte. Die Geschichte wirkt darüber hinaus sehr realistisch. Besonders schön fand ich die atmosphärischen Schilderungen von Anils indischer Heimat, durch die der Leser leicht in diese fremdartige, aber faszinierende Welt eintauchen kann. Ich hätte mir lediglich einen Glossar mit den mir meist unbekannten verwendeten indischen Begriffen gewünscht. In den Szenen, in denen es um Anils Arbeit am Parkview Hospital geht, werden außerdem viele medizinische Fachbegriffe verwendet, was ich aber passend fand. Ich war ziemlich überrascht, dass Anil zunächst solche Schwierigkeiten bei der Arbeit hat, obwohl er auch vorher schon manchmal Probleme hatte, so zum Beispiel an der Uni aufgrund seiner provinziellen Herkunft, die ihn die anderen Studenten deutlich spüren lassen. Vor dem Antritt seiner Stelle als Assistenzarzt am Parkview wirkte Anil dann aber doch sehr gut vorbereitet und motiviert. Letztendlich wurde er mir durch seine Fehler und Schwächen aber auch sehr sympathisch. In einigen Situationen handelt er naiv, dennoch hat er ein gutes Herz und versucht grundsätzlich das zu tun, was richtig und gerecht ist. Nach dem Tod seines Vaters wird Anil als dessen ältester Sohn der nächste Schiedsmann von Panchanagar, obwohl dies sicherlich keine ideale Lösung ist.
Während eines Besuchs in seinem Elternhaus kommen Anil und Leena sich wieder näher. Anil bedauert es sehr, dass sie sich so sehr voneinander entfernt haben. Schnell wird für den Leser klar, dass er noch immer sehr viel für sie empfindet. Leena aber ist nach den schrecklichen Dingen, die ihr widerfahren sind, sehr zurückhaltend. Ich habe wirklich gehofft, dass Anil und Leena zusammenkommen, ob ihnen dies gelingt, bleibt lange offen. Der Ausgang der Geschichte war ebenfalls realistisch und für mich zufriedenstellend.
Einige Zustände und veraltete Ansichten innerhalb der indischen Gesellschaft haben mich sehr schockiert. Zum Beispiel müssen Leena und ihre Eltern wie Geächtete leben, nachdem sie der für sie lebensbedrohlichen Situation im Haus ihres Ehemanns entflieht. Ohne genau zu wissen, was vorgefallen ist, machen die Dorfbewohner Leena dafür verantwortlich, dass ihre Ehe nicht funktioniert hat und verurteilen sie dafür, was besonders auch auf Anils Mutter Mina zutrifft. Auch die medizinische Versorgung in Panchanagar ist sehr schlecht, stattdessen ist alter Aberglaube noch weit verbreitet, was mit dazu führt, dass Anil für sich keine berufliche Zukunft in Indien sieht.
Das Cover von "Der goldene Sohn" finde ich sehr schön gestaltet, auch wenn es keine direkte Verbindung zu der erzählten Handlung gibt und es mir im Buchladen wohl nicht besonders aufgefallen wäre.
Insgesamt handelt es sich hier um ein tolles und meiner Meinung nach absolut empfehlenswertes Buch mit einer bewegenden und mitreißenden Geschichte über die Suche nach der eigenen Identität und Heimat zwischen zwei Welten, den Konflikt zwischen Tradition und sinnvoller Neuerung und Liebe. Die beiden Protagonisten Anil und Leena sind äußerst starke und sympathische Figuren, besonders Leena, die nach den unvorstellbar brutalen Misshandlungen durch ihre Schwiegerfamilie zurück ins Leben und ihren eigenen Weg findet.