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Anonym
18. April 2019
Knapp an der Realität vorbei
„Die Gesellschaft ist nur drei volle Mahlzeiten von der Anarchie entfernt“, heißt es wiederholt in John Ironmongers Roman. Was geschieht mit den Menschen, wenn sie sich auf vertraute alltägliche Abläufe nicht länger verlassen können und der Kreislauf der Gesellschaft plötzlich stoppt?
Am Strand des 300 Seelen-Dorfes St. Piran an der Küste Cornwalls taucht ein Finnwal auf und spült den Analysten Joe Haak ans Ufer und in eine Welt, die seiner nicht unähnlicher sein könnte. Weil er glaubt, aufgrund seines Programms Cassie für hohe Verluste in seiner Firma verantwortlich zu sein, flieht Joe an den ihm unbekannten Ort. Doch wie Jona in der biblischen Erzählung, der eine aufgeschobene Mission zu erfüllen hatte, hat auch Joes Auftauchen einen tieferen Sinn für die Bewohner von St. Piran, aber noch ahnt keiner der Bewohner, dass beide eine drohende Wende in der Welt ankündigen und gleichzeitig einen großen Anteil zu deren Überwindung beitragen. Als der Wal Tage später strandet, mobilisiert Joe voller Hingabe das ganze Dorf zu seiner Rettung. Denn im Grunde ahnt er bereits, dass die Dinge auf rätselhafte Weise miteinander zusammenhängen.
Das umfangreiche Personal der Handlung reicht charakterlich von äußerst uncharmant bis ungemein extrovertiert – aber stets gutmütig und hilfsbereit. Soviel Selbstlosigkeit kann einen als Leser*in schon mal stutzig machen, weil es bei 300 Menschen relativ unwahrscheinlich ist, dass sich alle sofort einstimmig zusammenschließen, wenn sich ein Konflikt auftut. Nichtsdestotrotz ist die Figurenzeichnung Ironmongers äußerst detailliert und liebevoll gestaltet, sodass man tief in die Geschichte eintauchen kann und zu einem Teil von ihr wird.
In eingestreuten Prolepsen werden fehlende Zusammenhänge schlüssig erläutert und gleichzeitig wird das Geschehene sinnvoll reflektiert. Diese Zwischen-Reflexionen erlauben es, als Leser*in eine Denkpause einzulegen und in sich selbst hineinzuhorchen. Da im Handlungsverlauf immer wieder Entscheidungen getroffen werden müssen – doch nicht ohne das Für und Wider vorher abzuwägen – fragt man sich dabei immer selbst: Was hätte ich getan, wenn das Unerwartete eintritt? Ironmonger setzt genau an diesem Punkt die These des englischen Philosophen Thomas Hobbes ein, die aus dem ‚Leviathan‘ stammt:
„In Leviathan ist der Naturzustand des Menschen das, was passiert, wenn wir keine Regierung haben, niemanden, der die Einhaltung der Gesetze überwacht, keine Zivilisation. Hobbes‘ Naturzustand ist ein Krieg aller gegen alle.“ Diese Worte werden der Figur des Firmeninhabers Mr. Kaufmann in den Mund gelegt, womit er auf den alles antreibenden Egoismus anspielt, „die Energiequelle des Kapitalismus.“ Denn auch wenn sich praktisch die gesamte Handlung in St. Piran abspielt, so sind die Räder des Kapitalismus für den Sinn der Handlung unentbehrlich. Denn hier wird Hobbes‘ These nicht nur zum Überthema, sondern sie wird auch von den loyalen Dorfbewohnern widerlegt, als es zur entscheidenden Wende in der Welt (und im Mikrokosmos St. Piran) kommt.
Dass die Krise die Liebe und gegenseitige Hilfsbereitschaft der Menschen nicht einkalkuliert hat, sorgt jedoch leider weniger für einen Überraschungseffekt als vielmehr für Rührung beim Lesen. Zu einfach scheint hier die Lösung, zu homogen die Gesinnung. Dadurch wirkt der Roman wie eine ungewohnt optimistisch anmutende Dystopie, die komplexe Zusammenhänge zwar plausibel erklärt, sie aber zu simpel auflöst und der Geschichte dadurch den Spannungsbogen nimmt. Diese Genre-Mischung wirkt wie ein Hybrid, als das sich sogar auch eine der Figuren selbst bezeichnet. Die sprachlich und inhaltlich klare Geschichte brachte mich wiederholt zum tieferen nachdenken, jedoch wurde mit der zu simplen Auflösung auch die Möglichkeit der Realität umgangen.