Nada Surf bereiten Power-Pop-Fans mit "Moon Mirror" 44 glückselige Minuten.
Und das gilt nicht nur für die in Adrenalin getränkten Stücke, sondern auch für die Balladen. Nada Surf versetzen die Hörerschaft in einen euphorischen Rauschzustand, der durch hingebungsvolle Empathie noch zusätzlich bereichert und aufgewertet wird.
Aber der Reihe nach: Die New Yorker Musiker Matthew Caws und Daniel Lorca kennen sich schon seit Kindheitstagen, spielten zusammen in Schülerbands und gründeten 1993 Nada Surf. Der Name ist ein spanischer Begriff für den Weg heraus aus einer Depression. Nach einigem Veröffentlichungs-Wirrwarr erschien der erste Longplayer "High/Low" im Jahr 1996 und warf gleich die Hit-Single "Popular" ab. 1998 folgte das zweite Album "The Proximity Effect" und mit "Let Go" aus 2002 etablierte sich die Band endgültig als hochkarätige Indie-Pop-Formation mit Hang zum Pop-Punk und einem Sinn für ausgefeilte Kompositionen.
Bis 2020 folgten sieben weitere Werke, darunter die Cover-Versionen-Platte "If I Had A Hifi" aus 2010 und "Peaceful Ghosts" von 2016, wo ausgewählte Stücke zusammen mit dem Babelsberger Filmorchester neu interpretiert wurden. Nach 4 Jahren Veröffentlichungs-Pause kommt nun am 13. September 2024 der vierzehnte Longplayer "Moon Mirror" auf den Markt. Die Aufnahmen wurden in der Besetzung Matthew Caws (Gesang, Gitarre), Daniel Lorca (Bass), Ira Elliot (Schlagzeug) und Louie Lino (Keyboards, Gesang, Gitarre) in den Rockfield-Studios in Wales unter der Leitung des Produzenten Ian Laughton, der unter anderem bereits für Supergrass und Ash arbeitete, eingespielt.
Mit "Second Skin" legt die Band stürmisch los und Matthew Caws lässt wissen, dass er seine Schutzhülle, die er gegen zwischenmenschliche Enttäuschungen aufgebaut hat, ablegen möchte ("Ich trug einen Porzellanmantel. Du kanntest mich nicht vollständig." und "Ich bin es leid, in dieser zweiten Haut zu leben. Ich will alles hereinlassen.") Mit ihrem aufwühlenden, vorauseilenden, erfrischenden Schwung aktiviert die Musik Körper und Geist und reißt mithilfe der mächtigen Klänge alle zwischenmenschlichen Hemmnisse ein.
Und wer jetzt glaubt, die Gruppe habe ihr Energiepotenzial schon ausgeschöpft, sieht sich getäuscht: Mit "In Front Of Me Now" geht es weiter druckvoll-elegant zur Sache und die Musiker legen hinsichtlich des Temperamentes sogar noch eine Schippe drauf. Der schwirrend-hinreißende Folk-Rock der Byrds und der ungestüm-vehemente College-Rock der 1990er-Jahre bilden die Basis für diesen Track. Im Team ist diese Mischung aufgrund ihrer beflügelnden Wirkung nahezu unschlagbar. Der Song ist in seiner ganzen Beschaffenheit, also inhaltlich und musikalisch in gewissem Maße ein Bekenntnis zum bewussten, achtsamen Leben.
Jetzt wird es Zeit für eine Verschnaufpause. Es folgen zwei ausdrucksstarke Balladen, die sich allerdings in ihrer Konzeption grundsätzlich voneinander unterscheiden. "Moon Mirror" steigert die Dynamik nur langsam, bleibt dabei verhalten und strebt nicht nach einem fulminanten Finale. Der emotionale Reiz ergibt sich vielmehr aus dem verständnisvoll-harmonischen Gesang und der weich fließenden Melodie. Der Text zeugt von einer gewissen Orientierungslosigkeit in dieser von Reizen überfluteten Zeit. Es stellen sich die Fragen: Auf wessen Aussage kann ich noch vertrauen und wo finde ich Anhaltspunkte für meinen weiteren Lebensweg? Vielleicht kann in diesem Fall uraltes schamanisches Wissen für Orientierung sorgen: Der Mond gilt in diesem Zusammenhang als Reflektor von unbewussten, verborgenen Wünschen. Er wird beim Song "Moon Mirror" jedenfalls gezielt poetisch als Hilfs-Institution und als Energielieferant angesprochen ("Mondspiegel, zeige mir ein Leben, das ich lebe, verbinde mich mit etwas, das gerade erst beginnt.")
Bei "Losing" lodern die Gitarren feurig im Hintergrund, setzen den Song aber nicht übermütig in Flammen. Sanfte Geigentöne aus dem Synthesizer übernehmen zwischendurch das Ruder und steuern das Lied in sentimentale Gefilde, wobei wieder die Stimme maßgeblich die Regie übernimmt und eine Charme-Offensive startet. Matthew Caws dehnt manche Worte so stark, dass sie sich wie warme Decken über die Noten spannen. Der Track lässt förmlich auf suggestive Weise bildhafte, berührend-hingebungsvolle Momente entstehen. Würde der Song stattdessen schneller gespielt werden, gäbe er eine rasant-gefühlvolle Power-Pop-Hymne ab. Der Text macht klar, dass man bei einer zerbrochenen Liebe viel mehr als nur einen Partner verliert. Dazu gehört auch die unwiederbringliche Zeit, die vielleicht als verschwendet empfunden wird. Womöglich verliert man sogar Selbstvertrauen, was zukünftige Schritte im Leben hemmt. Der Verfasser des Songs, Louie Lino, sieht den Text "als Aufzählung all der Dinge, die das Älterwerden einem raubt."
Mit "Intel And Dreams" kommt dann wieder mehr Druck auf den Kessel. Anfangs tendiert der Track eher zum Punk als zum Pop. Später dreht sich diese Wahrnehmung. Die Poesie beschreibt und preist zunächst "die Leichtigkeit des Alleinseins". Es stellt sich aber heraus, dass es sich bei dieser Aussage nur um Schönfärberei der Einsamkeit gehandelt hat: "Selbst die besten Tage fühlen sich halb vergeudet an."
"The One You Want" spielt mit der Überlegung, ob eine Beziehung dadurch zu retten ist, wenn man sich an die Erwartungen des Partners vollständig anpasst. Dies führt in der Regel irgendwann zu Konflikten ("Ich will dich nicht verlieren, aber ich will auch nicht gewinnen. Können wir neu anfangen und es noch einmal versuchen?"), die sich unter bestimmten Bedingungen auflösen oder ins Zerwürfnis führen können. Das Lied vermittelt dieses Wechselbad der Gefühle durch langsame und schnelle Passagen, durch romantischen und strengen Gesang, durch schwebende, synthetische Streicher und ein unnachgiebig galoppierendes Schlagzeug.
"New Propeller" soll Mut machen. Mut, um seinen Standpunkt zu verteidigen und sich nicht einschüchtern zu lassen. Nicht von Personen, Institutionen oder Religionen. Laut Matthew Caws ist das Lied "eine Reflexion über Veränderungen." Dazu braucht es keinen Krawall, keine Wutausbrüche gegen die vermeintlichen Energie-Fresser und keine Hasstiraden. Der Zauber der Ruhe, eine erhabene Schönheit und Weisheit in Ausdruck des Gesanges leisten hier sanfte, aber unmissverständliche Überzeugungsarbeit.
"Open Seas" ist der wohl einfühlsamste und raffinierteste Song auf "Moon Mirror". Er basiert auf einem rauen, aber kompromissbereiten Punk-Riff und verfügt über eine zuckersüße, knifflig-vielschichtige Melodie. Es werden alle Register gezogen, um die Hörerschaft um den Finger zu wickeln und ihre Begeisterung mit irgendeiner unerwarteten Wendung zu wecken - was wahrscheinlich alleine aufgrund von süßen, dynamisch aufgebauten Verlockungen gelingen wird. Ohne Zweifel: Ein grandioser Song! Die Lyrik bleibt weitgehend undurchsichtig ("Es gibt keine Aufzeichnungen, keine Spuren, es gibt nichts, was irgendjemand auf deinem Gesicht sehen kann, es gibt keine Methode, es gibt kein Verbrechen, von dort nach hier zu kommen war nie eine gerade Linie"), regt aber die Fantasie an.
"X Is You" holt den Boogie-Groove zurück ins Geschehen. Auf jeden Fall solche Schwingungen, die Herz und Beine in Bewegung setzen. Der Track vermittelt den Eindruck, als sei er als Empfehlung, das bisherige Leben zu überdenken und eingefahrene, hinderliche Abläufe abzulegen, gedacht ("Schüttle den Ärger aus deinen Augen. Schüttle die Kälte aus deinem Innern").
Es folgt ein weiteres Lied, welches durch kompakte Leidenschaft Zuversicht verbreitet: Bei "Give Me The Sun" heißt es: "Oh ich weiß, dass es Frieden gab, ich weiß, dass es Spaß gab. Ich nehme meine privaten Träume und ich lege sie in die Sonne." Matthew Caws erweist sich als seriöser Entertainer, während die E-Gitarren schroff-hitzige Dauersalven absondern und der Rhythmus-Bereich Standhaftigkeit in jeder Lage praktiziert.
Für "Floater" neutralisieren sich Energie und Empathie gegenseitig, sodass ein kompakter, aber dennoch empfindsamer Folk-Rock entsteht. Der Gesang klingt geläutert und in sich ruhend. Der Text bleibt kryptisch-assoziativ und erschließt sich wohl erst dann vollständig, wenn ihre Verfasser dazu befragt werden können ("Lass ein Seil in den Wunschbrunnen fallen, müde, wahrscheinlich verängstigt, Vergebung ist genau dort.")
Mit "Moon Mirror" melden sich Nada Surf eindrucksvoll mit elf qualitativ hochwertigen Liedern nach "Never Not Together" aus 2020 zurück, die noch lange im Gedächtnis nachhallen werden. Das Werk ist quasi eine "Best Of"-Zusammenstellung mit ausschließlich neuen Stücken. Die Musiker füllen souverän und einladend-attraktiv ein Spektrum aus, das von lieblichen Beatles-Harmonien bis hin zu harten Punk-Riffs reicht. Alle Tugenden der Gruppe treten bei den neuen Kompositionen in hoher Qualität hervor und sorgen von Anfang bis Ende für großen Spaß und vollständige Zufriedenheit.