Ein Pläsdoyer, das zu Claudel und Rolland hinführen könnte
Keine Frage: es war nützlich, daß Ulf Schirmer diese Oper endlich einmal ungekürzt einspielte - ich bin auch ein großer Fan solcher Werke!!! Er nahm z. B. das Spiel der Glocke des Angelus auf, welches meines Erachtens ein große Rolle spielt: vom kleinen mädchenhaften Anfang bis zum großen Erlsöungsrauschen einer gewordenen Heilerin, das ist ein "Entwicklungsweg" vom scheinbar Harmlosen zum Bedeutenden.
Und keine Frage: die Musik Braunfels` enthält viele reizvolle Passagen. Sollte man kennenlernen! Etwa wenn Violaine im 3.ten Act wie eine Königin die unbekannte Besucherin großmütig vor Kontakt wegen Aussätzigkeit warnt, sich selbst in die Einsamkeit opfernd, um andere zu schützen. Aber dieses Stück - und viele andere von Braunfels - wirft auch Fragen auf.
Claudels Werk kann man auf jeden Fall neben Romain Rollands Roman "Johann Christof Kraft" stellen, und neben Pfitzners "Palestrina" oder "armen Heinrich" und "Das Herz", der die beiden ersten Werke Italien widmete, wobei Palestrina mitten im ersten Weltkrieg während des Krieges gegen Italien einen Italiener zur besonderen Persönlichkeit erklärt.
Wer aber schon von Braunfels` Oper Verkündigung tief ergriffen ist, sollte sich unbedingt irgendwie, z. B. über Bestellung per Stadtbibliothek, die 6 Bände der deutschsprachigen Ausgabe der Werke Claudels besorgen. In zwei Bänden sind darin die Dramen enthalten, in einem Maria Verkündigung, im anderen Das Mädchen Violaine. Maria Verkündigung wurde von Edwin Maria Landau ins Deutsche übersetzt (welcher auch der Herausgeber dieser autorisierten Ausgabe ist).
Und hier zeigt sich ein entscheidender Unterschied zu Braunfels` extrem reduzierter Version: während Braunfels Violaine-Gestalt eine mädchenhaft verliebt-naiv duldende Dienerin ist, die sich gutmütigst aufopfert, ist die Violaine bei Claudels Original eine junge stattliche Frau, ebenfalls die Güte in Person, aber kritisch aufgeweckt, die Verführung durchschauend, selbstbewußt, nicht weltfremd, sondern weltklug, voller Menschenkenntnis. Eines ihrer Worte bei Claudel ist:
"Wo ich bin, ist Geduld, nicht Dulden. (Schweigen.) Das der Welt ist groß." (Dramen Teil II S. 85)
Und zwischen Geduld und Dulden zu unterscheiden, hat sie auch nötig. Denn in dem äußerst langen Prolog tritt hier bei Claudel der "Dombaumeister" Pierre de Craon (Braunfels: Peter von Ulm) auch als Verführer auf. Er bedrängte Violaine einen Tag zuvor mit dem Messer, weil er sie sexuell begehrte und setzt sie auch nun unter Druck, sich kirchlich ihm anzuschließen, weil es sowieso seine vom Bischof erteilte Aufgabe war, dem in der Nähe von Violaines Heimathof befindlichen Nonnenkloster "Marienberg" neue Mitglieder zuzuführen:
"Denn mein Amt ist es, Marienbergs Schoß zu öffnen, und die Wand aufzureißen jedesmal, daß ein neuer Taubenschwarm einzuziehen begehrt in die hohe Arche...." (S. 13)
Violaines Verhalten ist nun so, dass sie es bevorzugt, weltliche Dienerin zu bleiben, als Versorgerin des Klosters. Mit dem Verlust ihres Vaters erkennt sie auch ihre Lage:
"Nie war bis dahin unserm Stamme der männliche Erbe versagt, stets wurde das heilig uns Anvertraute weitergegeben vom Vater zum Sohn.
Und nun, da es zum ersten Male in die Hände einer Frau fällt, wird es mit ihr das Ziel von Begierden." S. 51
Bei aller kritischen Klugheit ist es bei Claudel ein Merkmal, daß Violaine dennoch eine geduldig gütige Gönnerin bleibt, die vergeben möchte, bishin, dass sie als Aussätzige das tote Kind (hier ein Mädchen) zum Leben wiedererweckt (es wird nicht sterben, sondern am Ende wie als ihr eigenes Kind leben) und allen vergibt.
Warum das Werk "Maria Verkündigung" heißt, lässt sich wohl mit der Schlussscene bei Claudel erklären, die bei Braunfels komplett fehlt: nach ihrem Tod treffen sich die Überlebenden, der Dombaumeister Pierre, ihr Vater, ihr Beinahe-Ehemann Jacques, ihre Schwester Mara, das Kind, über der Apfelplantage unter dem mittlerweile ausgestorbenen Nonnenkloster "Marienberg" und während ihrer Dankreden an die verstorbene Violaine erklingt "wie aus dem Himmel" erneut die Glocke des Angelus, wie sie erklang, als Violaine Pierre das Tor zur Freiheit und Heilung vom Aussatz öffnete. Ich will jetzt nicht sagen "eine Heilige wurde selig gesprochen", aber ich würde formulieren "eine Heilerin wurde quasi von "Höherem" durch ein Zeichen anerkannt".
Daß ausgerechnet das bei Braunfels fehlt, wundert mich, auch dass er dann stattdessen den seltsamen Zyklus "Die Gott minnende Seele" op. 57 folgen lässt, verstehe ich geauso wenig wie andere Kommentatoren hier vor Ort.
Durchaus meine ich auch, dass Braunfels zu sehr den Akzent auf das "Dienen" setzt, und den grausigen Opfertod. Doch wo ist die Erlösung? Bei Claudel ahnt man sie, wenn nach ihrem Tod vom menschenleeren ausgestorbenen Kloster aus das geheimnisvolle Glockenspiel als Wunder ihre Erlösung im Jenseits andeutet. Gut, ich halte nichts von irrealen Märchen, von unwahren Zauber, aber als dichterisches Symbol für eine irgendwie geartete Bestätigung von irgendwoher, daß diese verdiente Frau von ihresgleichen gerettet wird, hätte doch gut gepasst.
Ist mir auch klar, dass Braunfels hier scharf kritisiert wurde; wer aber sich seinen Glauben nicht nehmen lassen will, besorge sich unbedingt als "ergänzende Korrektur" das Stück von Claudel.
urantik,a.o. anck