Braunfels hat oft andere zitiert und weiterverarbeitet
Eine faszinierend schöne Neuinterpretation der Messe von Braunfels mit Weigle und Holl wirft die - leider - ebenso faszinierend schöne Frage auf: ist die Musik nun von Braunfels oder nicht?
Hierzu meine freundliche Anmerkung: ja und nein!
Alle haben zitiert:
Es ist in der Musik des 20. Jahrhunderts üblich gewesen, sich gegenseitig zu zitieren. Alle haben das gemacht. Pfitzner, Strauss, Mahler, Berg, Scriabin, Arensky, Wolf-ferrari, Busoni, Wagner zuvor und so auch Braunfels! Sie hatten gezielt und nicht dilettantisch zufällig zitiert. Deswegen ist auch der in den 80er Jahren erhobene "Ekklektizismus-Vorwurf" gegen das 20. Jahrhundert hinfällig. Wenn dem Hörer manchmal etwas so vorkommt, das hätte er so schon einmal woanders gehört, ist das ganz normal. Normal ist aber auch, daß die Komponisten dennoch eigenständig waren und im Grunde eigenständig komponierten.
Braunfels hat sehr viel zitiert, und er verwendet Zitate an zentral bedeutender Stelle, wo die Einfälle anderer seine Werke extrem aufwerten. Er hat aber offenbar auch eigene Einfälle an zentraler Stelle und er verstand es, von den Einfällen anderer eigenständige Ableitungen zu entwickeln, was ja jeder machte und erst einmal prinzipiell legitim ist.
Doping in der Musik:
Eine grundlegende juristische Überlegung ist dabei aber stets: wenn ein Komponist zitiert, tut er das im Sinne des Zitierten, oder aber eignet er sich fremden Reichtum an in einer Weise, die den Zitierten enteignet und sich selbst überhöht? Deswegen ist es selbstverständlich logisch, daß ein Komponist wie Braunfels, der so energische religiösen Ansprüche stellte, kritisch betrachtet wird, den es blieb nicht bei Werken wie Messe op. 37, sondern es kam zwei Opusnummern weiter zu Opern wie "Der gläserne Berg" op. 39 einerseits und "Galtea" op. 40 andererseits, die den "Sinn der Messe" evtl. ins Gegenteil verkehrt haben könnten. (Ich möchte dazu anmerken, daß ich die Textbücher dieser Opern im Gegensatz zu vielen anderen kenne)
Hier meine Hinweise zu Zitaten in der Messe:
Die Messe op. 37 bezieht sich klar auf die Messe von Pfitzners Palestrina am Ende des ersten Aktes. 1927 und auch heute war diese Musik bekannt und berühmt.
Es ist das Messe-Motiv, es erscheint mehrfach, Track 1 Kyrie ab 4:04 - 4:21 mit einer Begleitfigur, die stark an eine Stelle aus dem Beginn 2.ter Teil der Kantate Von deutscher Seele von Pfitzner erinnert, und Track 8 Agnus Dei 5:40 - 6:14, 7:03 - 7:20.
Im Offertorium Track 4 und Benedictus Track 7 finden wir eine Andeutung des Palestrina-Motivs, wenn es im Triumpf den Morgen Roms erleuchtet, Ende Akt 1 nach dem Glockenläuten: Track 4 ab 2:44 - 3:15, Track 7 5:34 - 5:48 und danch noch einmal kurz. Braunfels zitiert das Messe-Motiv ganz klar, den Urheber selber aber nur verändert.
Im Benedictus Track 7 finden wir ein klares Zitat aus dem Andante Satz 2 Sinf. Nr 6 von Gustav Mahler, jenes Erlösungsthema, welches nach den Kuhglocken erscheint, hier 2:10 - 2:26, 3:53 - 4:10.
In Track 6 Interludium finden wir in 1:16 - 1:49 als Begleitung zur Orgel einen Blechbläserakkord, der identisch scheint zu Strauss Blechbläserakkorden aus dem Schlußstück "Nacht" der Alpensinfonie, jene unheimliche diffuse Stimmung, in der die Zukunft ähnlich wie am Ende von "Salome" fraglich scheint.
Nur daß es evtl. bei Braunfels zum "Kommen Jesu" im Benedictus führt, so als sei nun der Täufer gering geworden, Jesus aber groß - was bei Strauss so nicht gemeint ist, denn der Künstler der Alpensinfonie findet wie der Held im Heldenleben, Zarathustra und der Sterbende in Tod und Verklärung vorher die Erfüllung (ach ja, auch in Domestica).
Eine erstaunliche Ähnlichkeit zu Strauss findet man dann auch noch im Credo Track 3 2:07 - 2:41, das klingt wie die positive Gegenstimmung zum Klagegesang aus Strauss Metamorphosen zum Untergang von München 1943, nur viele Jahre vorher geschrieben, ebenso seltsam wie etwa Brahms "Deutsche Beerdigung (Requiem)" op. 45, lange vor dem deutschen Totaluntergang 1945 verfasst.
Jeder kann nun überprüfen, daß ich nachgewiesen habe, daß Braunfels zitiert (und nicht nur hier). Warum er die Messe Pfitzners "wiederholte" ist müßig zu erörtern. Pfitzners Palestrina ist ein "menschlicher Erlöser" ("schach bin ich, voller Fehle, und um ein Werden ists in mir getan", Scene 5 Akt 1), der menschliche Probleme löst; ob Braunfels an diese menschliche Kraft auch glaubte und im Stande war, Menschen, die mit Problemen und bedeutenden "Flecken" behaftet waren, zu verehren, sei dahingestellt.
Wer die Messe Pfitzners aus Palestrina liebt, der sei darauf verwiesen, daß dieser selbst diese "weiterentwickelte", in "Lethe" op. 37, "Das dunkle Reich" op. 38, "Das Herz" op. 37.
Im op. 38 finden wir es in der grandiosen Gretchenklage, Nr. 5, vor der Mater Dolorosa bei den Worten :
"Die Scherben vor meinem Fenster
Betaut ich mit Tränen, ach!
Als ich am frühen Morgen
Dir diese Blumen brach." ...
In diesem modern dissonanten Stück finden wir eine der trostreichsten musikalischen Melodien der Geschichte, eine Weiterentwicklung der Messemusik aus "Palestrina", die von Pfitzner 1929 selbst stammte und nicht von Braunfels; mir sagte eine bedeutende Persönlichkeit "dies sei das trostreichste musikalische Thema der Musikgeschichte". Beklemmend, daß dieses op. 38 den Horror von 1938 vorwegnahm... eines meiner Lieblingsstücke neben "Ein Überlebender aus Warschau" op. 46. Da sind Berührungspunkte! Arnold Schönberg selber sprach Pfitzner damals nach 1945 vor Gericht frei.
Meine Anmerkung zur vorliegenden Aufnahme: die Interpretation ist natürlich bemerkenswert, Weigle hat sich übertroffen, auch die Sänger! Klangüppig, geistig, sensibel. Man versucht tatsächlich, Braunfels in die Nähe zu Mahler, Pfitzner, Strauss zu stellen. Entsprechend auch die Tendenz im Booklet, die genau diesen Zusammenhang knüpfen will. Ob das zutreffend ist, könnte möglicherweise bezweifelt werden! Bei der Gelegenheit würde ich aber auch mal einen Blick auf die Strauss-Interpretationen von Weigle bei Oehms werfen: die neue Alpensinfonie ist eine Meisterleistung, packend dramatisch, witzig (im Sturm), extrem ausgewogen homogen, zauberhaft, warm.
Auch Robert Holl war ja schon an vielen Spitzeninterpretationen beteiligt, z.B. hat er mit van Zweeden in Holland - Verzeihung, nach der Rechtschreibreform müßte es natürlich Holl-Land heißen - die vielleicht humanste und beste Interpretation des Parsifal bewerkstelligt. (Kein Zweifel wäre eine Einspielung von Chororchesterwerken von Pfitzner mit Holl und Weigle und anderen dieser Aufnahme sinnvoll, etwa Das dunkle Reich und Urworte).
Kein Zweifel, sehr gute Leistung für ein Werk, das Fragen aufwirft und Antworten sucht.