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HRF
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21. Oktober 2023
Künstlerische Qualität:
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Was für ein Talent, was für ein Verlust. Höchst eindrucksvolle Einspielung
In den letzten Jahren verdanken wir einer Reihe herausragender Pianisten und mutiger Plattenlabels zahlreiche Ausgrabungen russischer Klaviermusik zwischen Fin de Siècle und dem Beginn der stalinistischen Kulturunterdrückung. Der Zugang hierzu wurde aber auch im Westen erst möglich, nachdem ein Verständnis dafür wuchs, dass nicht alles, was nicht seriell komponiert war, ewiggestrig ist. So entdecken wir erst jetzt, mit drei Generationen Verspätung, eine ganze Riege von sehr hörenswerten Komponisten, die damals in Russland als musikalische Avantgarde neue Wege wagten. Roslawez, Lourié, Obuchow, Mossolow, G. Catoire und andere. Eines der größten Talente von ihnen war Alexej Stantschinskij, der bereits mit 26 Jahren einen bitteren Liebestod starb.
Was wir von ihm haben, sind fast ausschließlich Werke für Klavier. Ein Korpus, den uns Olga Solowjewa erstmalig in einer Gesamteinspielung auf zwei CDs vorstellt. Eine Schatzkammer von musikalischen Experimenten. Reizvoll exotische Melodien, meisterhafter Umgang mit dem Kontrapunkt, aber vor allem eine ekstatisch-rhythmische Kunst von größter Vitalität.
Die Stücke sind auf den beiden CDs überwiegend chronologisch nach ihrer Entstehung angeordnet, was die staunenswerte Entwicklung des jungen Komponisten erlebbar macht. Schon das ein Hördrama für sich. CD 1 dokumentiert die Phase der kreativen Aneignung der Muster der romantischen und in Russland so geliebten musikalischen Vergangenheit. Mit CD 2 erleben wir Stantschinskijs Durchbruch zu sich selbst. Um 1912 passierte etwas. Mit den 'Zwölf Skizzen' wirft er allen Ballast ab und schreibt meisterhafte Stücke von motorisch-rhythmischer Radikalität, wie sie Prokofjew erst ein Vierteljahrhundert später in seiner siebten Klaviersonate sehr viel zahmer wagt. Die von Solowjewa teils gewählten extrem schnellen Tempi sind für die musikalischen Ekstasen perfekt. So muss man das spielen. Die nachfolgenden beiden Klaviersonaten Nr. 1 und Nr. 2 zeigen, wohin Stantschinskij unterwegs war. Ein Talent, das das Zeug gehabt hätte, Musikgeschichte zu schreiben.
Die Moskauer Pianistin Olga Solowjewa ist für die Werke die ideale Interpretin. Souverän meistert sie die aberwitzig virtuosesten Passagen, ohne sich in Akrobatik zu verlieren. Ihr Spiel dient immer dazu, den Zugang zu Stantschinskijs reicher emotionaler Welt zu eröffnen. Das sind, wenn man so will, Seelengemälde intensivster Empfindung, und doch sind es vollgültige Kompositionen auf der Höhe der Kunst.
Die Aufnahmen durch den Toningenieur Ilja Donzow verdienen Dank. Der Steinway-Flügel ist klangvoll und tief durchgezeichnet, womit die Einspielung sowohl zarten Momenten als auch vollgriffigem Volumenspiel vom Diskant bis in die tiefen Lagen gerecht wird. Vielleicht ist das Bassregister etwas überrepräsentiert. Der Raumeindruck ist für diese Musik angemessen weit und zugleich intim genug.
Im Begleitheft zeichnet Olga Solowjewa informativ ihre Forschungsarbeit am noch wenig erforschten Werk Stantschinskijs nach. Zugleich führt sie den Hörer sehr hilfreich in den Werdegang des Komponisten und in seine Klavierstücke ein.
Mit den vorliegenden Aufnahmen aus den Jahren 2021/2022 zur zweiten Stantschinskij-CD schließt Olga Solowjewa ihre Gesamteinspielung ab. Ein hoch verdienstvolles Pionierwerk. Sehr empfohlen. Zugleich wäre zu wünschen, dass diese Musik auch im großen internationalen Konzertbetrieb Fuß fassen würde. Vieles davon könnte jüngere Zuhörer ansprechen und der Vereinsamung der Silver Generation in den Konzertsälen entgegenwirken. Obwohl über 100 Jahre alt, ist das packend frische und junge Musik. Ein Brückenschlag.
Zu erwähnen bleibt noch, dass Stantschinskijs Klaviermusik auch andere Interpreten angeregt hat, Teile seines Werks auf CD einzuspielen. Der Beginn einer Wiederentdeckung.