5 von 5
schriibli
Top 100 Rezensent
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Alter:
45 bis 54
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Geschlecht:
Männlich:
23. August 2011
Die Qual der Wahl!
Es scheint der Industrie immer wieder großen Spaß zu bereiten, den geneigten Musikfreund zu verwirren. Das gelingt immer sehr gut mit verschiedenen Ausgaben von ein und derselben Platte. Dazu bedient man sich dann noch entsprechender Appetizer wie "bonus tracks“, "remastered“, "expanded“, "remixed“, "anniversary edition“, "deluxe edition“, ja man ist mittlerweile sogar bis zur "super deluxe edition“ (z.B. "Who Live At Leeds“) vorgedrungen. Aber keine Angst, die erfindungsreichen Köpfe in den A&R-Departments werden damit sicherlich noch nicht am Ende der Fahnenstange angekommen sein. Ein relativ harmloses, aber dennoch gutes Beispiel haben wir mit dem Wishbone-Ash-Klassiker "Argus“ vorliegen.
Mit Beginn des CD-Zeitalters überspielte man die Platte erst mal . . . nun ja, auf CD eben. Man befleißigte sich aber nicht der originalen Stereo-Master oder gar der Multi-Track-Tapes - das wäre zuviel verlangt! Man will ja schließlich ökonomisch wirtschaften, mit geringstem Aufwand den größtmöglichen Reibach machen. Und der CD-Anbeter der ersten Stunde war ja auch einfach froh, seine Lieblingsplatten auf dem neuen "unzerstörbaren“ Speichermedium erstehen zu können. Und so klang die digitale Erstausgabe von "Argus“ nicht besser als auf Vinyl, sind wir ehrlich: eher schlechter. Und dabei blieb es zunächst auch für einige Zeit.
Als sich unter der Wohlklang-Gemeinde herumsprach, dass die Kollegen im fernen Nippon mit wesentlich besseren Produkten versorgt werden, welchen man hierzulande nur unter entsprechendem Aufwand und für teure Penunze habhaft werden konnte, sprach sich dies auch bald bis in die Etagen der Plattenfirmen im Rest der Welt herum. Also ging man hin und warf mit den ersten audiophilen Reizworten um sich: "remastered“ und "expanded“. Und im Jahre 2002 brachte denn auch Universal USA eine dermaßen untertitelte Version von "Argus“ heraus. Und das war nun wirklich ein Aha-Erlebnis. Dieser Silberling überzeugte durch einen so bestechenden Sound, dass man die Original-LP lediglich noch wegen des schönen großen Klappcovers aus dem Regal holen mochte. Außerdem hat man zusätzlich die Promo-EP "Live From Memphis“, welche seinerzeit auschließlich an US-Radiostationen zu Werbezwecken verteilt wurde, draufgepackt. Die war nämlich ob der Güte der Aufnahmen schon lange zum begehrten Sammlerobjekt unter Wishbone-Fans geworden. Da hat man dem Kunden also tatsächlich mal einen reellen Gegenwert für sein Geld geboten. Der wahre Knüller zeigte sich aber erst im direkten Vergleich: Es handelt sich hierbei nicht nur um ein neues Mastering (sprich: klangliche Überarbeitung) - die Aufnahmen sind von den ursprünglichen Mehrspurbändern komplett neu abgemischt worden! Und da steht’s auch ganz klein gedruckt: Remix by Martin Turner. Jetzt war mir auch klar, warum der Bass hier um einiges mehr im Vordergrund steht als bisher - wenn der Wishbone-Ash-Basser himself den neuerlichen Mix vorgenommen hatte.
Doch Ärger stand schon vor der Tür: 2007 traf mich die Nachricht, dass die europäische Universal eine "deluxe edition“ herausbrachte: eine erneut remasterte Doppel-CD, um Live-Aufnahmen der BBC aus dem Jahre ’72 erweitert. Und als ich mir das gute Teil dann mal ausführlich zur Brust nehmen konnte, sollte sich folgendes herausstellen:
1.) Das Remastering reicht nicht an das Ergebnis von 2002 heran.
2.) Man hat wieder den ursprünglichen Mix zugrunde gelegt und nicht den von Martin Turner.
3.) Von den "Live From Memphis“-Aufnahmen hat man unverständlicherweise "Jailbait“ gekappt und mit "No Easy Road“ vom Album "Wishbone Four“ ersetzt – wenn mir das mal bitte jemand plausibel machen könnte . . . !
Die BBC-Tracks gab’s zwar schon mal auf halblegalen CD-Ausgaben, sind hier allerdings in Tiptop-Sound vertreten.
Im Endeffekt ergibt sich daraus, dass der Fan hier vor folgender Entscheidung steht: Legt er Wert auf die bessere "Argus“ an sich und auf die komplette "Live From Memphis“ ist die (billigere) US-"Expanded“-Version die erste Wahl. Will er unbedingt die (klasse) BBC-Bonus-CD muss er zur "Deluxe Edition“ greifen. Oder er macht das, was den Plattenbossen bei dem ganzen Theater ohnehin am liebsten ist: Er kauft beide. Mit dieser Entscheidung muss ich jetzt allerdings jeden Kandidaten allein lassen.