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BeRo
02. November 2016
Klassik als Rock-Klassiker
Wer sich anlässlich des Todes von Keith Emerson (noch einmal) näher mit seinem musikalischen Vermächtnis beschäftigt, wird unweigerlich auf die wegweisende Rock-Adaption von Modest Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“ stoßen, die Emerson, Lake & Palmer als Live-Mitschnitt eines Auftritts vom März 1971 in der Newcastle City Hall 1972 veröffentlichten. – Eine 2003 herausgebrachte DVD dokumentiert eine andere – ähnliche – Aufführung vom Dezember 1970 im Londoner Lyceum Theatre (die nach dem Geschmack des Rezensenten aber zum Teil mit psychedelischen Bildeffekten überladen ist und damit streckenweise von der Musik ablenkt).
Die Quelle für „Pictures At An Exhibition“ bildet ein Klavierwerk Mussorgskys, das er anlässlich einer Ausstellung von Aquarellen und Zeichnungen des mit ihm befreundetet Malers Victor Hartmann 1874 komponierte, der ein Jahr zuvor gestorben war.
Das Werk weist eine bemerkenswerte Rezeptionsgeschichte auf: Populär wurde es weniger in der ursprünglichen Fassung (gleichwohl auch ein Standardwerk für zahlreiche Pianisten ob seiner spieltechnischen Herausforderungen, seien es Altmeister wie Alfred Brendel oder jüngere Interpreten wie Evgeny Kissin), sondern mehr durch die 1922 vorgenommene Bearbeitung für Orchester von Maurice Ravel (1875-1937) (als eine sehr gute Einspielung darf übrigens noch immer die von Carlo Maria Giulini mit dem Chicago Symphony Orchestra von 1976 gelten). 1939 erfuhr es ein weiteres Orchesterarrangement durch Leopold Stokowski (1882-1977). Ferner gibt es diverse Versionen für Orgel, Blechbläser/Orgel, Gitarre. 1975 veröffentlichte Isao Tomita eine Syntheziser-Version.
Zwar berücksichtigt die Bearbeitung von ELP nur einige Stücke des Originals, doch bietet die Band eine in sich geschlossene Performance. Nie wieder wurde die musikalische Qualität des hier dokumentierten Mitschnitts in den folgenden Jahren erreicht, im Gegenteil: auf späteren Aufnahmen wurde das Werk vom Trio nur noch stark verkürzt wiedergegeben und mehr oder weniger routiniert „runtergespielt“, wie z. B. „Works Live“ (aufgenommen 1977 in Montreal, erschienen 1993) zeigt.
Auf der hier zu besprechenden Aufnahme aber präsentiert Keith Emerson virtous und experimentierfreudig die – damals innovativen – Klangmöglichkeiten seines Moog-Synthezisers; Greg Lake überzeugt durch ein erstklassiges Bassfundament (ein Glanzpunkt ist aber das von ihm auf der akustischen Gitarre interpretierte „The Sage“, das jedoch eine Eigenkomposition ist und nicht von Mussorgsky stammt) und ergänzt verschiedene Passagen mit Gesang; Carl Palmer liefert ein in hohem Maße inspiriertes und geradezu melodiöses Schlagzeugspiel und wird dabei zum kongenialen Gegenpart von Keith Emerson.
Aufs Ganze gesehen handelt es sich also um eine Scheibe von hohem Repertoirewert – wer weiter sonst nichts von ELP als Exponenten des Progressive Rock in seiner Sammlung haben will, kann letztlich nur zu dieser CD greifen.
P. S.: Die Kritik ging übrigens nicht ausschließlich freundlich mit dieser Platte um - ein exemplarisches Fehlurteil leistete sich die Musikzeitschrift "Sounds" in ihrer Ausgabe 12/1971 - Auszug: "Der niedrige Preis ist noch das Erfreulichste an dieser Platte. Ansonsten spielen hier drei Musiker, die sich wie kleine Pop-Karajans vorkommen. Ihre Virtuosität ist gerade mit soviel Nonkonformismus (Emerson's Moog-Ausbrüche beispielsweise) ausgestattet, daß die Musik auch jene mit dem Musikgeschmack von gestern nicht abstößt. Perfektionisten sind hier am Werk, alles ist immer und überall so unter Kontrolle, daß selbst die 'freiesten' Stellen berechnet klingen."