Ergreifend fragil, melancholisch und wund
Vielleicht bin ich nicht gerade berufen, diese Platte zu kritisieren, denn als halbwegs jungem Hörer sind mir von den hier dargebotenen Liedern nur die Hälfte bereits bekannt. Aber keines von ihnen in einer Version von Frank Sinatra! Ich kenne und schätze Sinatra, aber ergriffen war ich von seinen Interpretationen bisher nie. Wahrscheinlich ist dies nicht die schlechteste Voraussetzung, um sich mit dieser Scheibe anzufreunden, auch wenn es für Dylan offenkundig eine Herzensangelegenheit ist, zum 100. Geburtstag Sinatras diese Hommage vorzulegen.
Von Bob Dylan hingegen kenne ich nicht nur alles, was der Mann im Laufe der Jahre veröffentlicht hat, sondern habe ihn auch oft im Konzert erlebt und Hunderte von Konzertmitschnitten gehört, und das seit mehr als 20 Jahren. Obwohl ich weiß, daß Dylan auch seine Fans immer wieder mit Hör-Herausforderungen konfrontiert, sie überrascht, plötzlich eine andere Richtung einschlägt als die, in die man gerade guckt, habe ich doch bestimmte Erwartungen an ein neues Dylan-Album oder auch einen Live-Auftritt von ihm, die bisher zumindest teilweise immer erfüllt wurden. Dieses Album bricht mit allen Erwartungen. Mit allen.
Es ist ja überliefert, daß Bob Dylan schon seit Menschengedenken mal ein Album mit großem Orchester aufnehmen wollte. 1994 hat er in Japan live demonstriert, wie das dann ungefähr klingt. Originell ist diese Idee heutzutage nicht mehr, Kollegen haben inzwischen mehr oder weniger unhörbare Aufnahmen mit großem Orchester vorgelegt. Als das einzige wirklich gelungene Experiment dieser Art sehe ich Joni Mitchells "Travelogue" an.
Nun also die Lieder, die der ganzen Welt in Orchesterversionen bekannt sind, mit kleiner Tourband. Auch das ist nicht so originell, wie Dylan glauben machen will. Seit Jahrzehnten spielen kleine Bands diese Songs in den Clubs und kann man sich Jazz-Versionen dieser Lieder auf Tonträgern anhören. Aber Dylan hat weder eine Jazz-Band, noch ist er Jazz-Sänger, auch wenn seine unerschöpfliche Kreativität sich oft jahrelang ausschließlich darin ausdrückt, daß er im Konzert die Lieder jeden Abend völlig anders singt - anders phrasiert und mit anderen Melodien. Am nächsten ist ihm wohl zur Zeit Willie Nelson, der unter anderem das auch hier vorgetragene Lied "What'll I Do" erst im letzten Jahr sehr, sehr reduziert nur zur Gitarre und zum Piano singend dargeboten hatte.
Bekannt ist auch, daß Dylan beim Covern von Songs oft eine berührende Ehrfurcht walten läßt, die ihm fremde Songs gerade nicht so zu verfremden gestattet, wie er es mit seinen eigenen Liedern tut. Betrachtet man einen Song bildlich als einen Berg, den es zu bezwingen gilt, so zieht Dylan es vor, seine eigenen Songs kurz und klein zu hacken und sich dann durch die Bruchstücke zu schlängeln. Fremde Songs behandelt er wie jeder andere als Berge und besteigt sie mühevoll und setzt sich dabei mit ihnen auseinander.
Hier auf dieser Platte tut Dylan zwar viel Unerwartetes, aber doch immer noch das, was er schon immer getan hat: Er nimmt die Songs, die er liebt, und klettert auf ihnen herum. Das klingt nicht immer besonders schön, egal welche Schönheitsideale man zum Vergleich heranzieht.
Gesangstechnisch kommt Dylan an keinen ausgebildeten oder besonders erfahrenen Sänger heran. Er trifft neben die Töne, kann die Töne nicht halten (versucht es aber hier leider zu oft), bricht Töne ab, knarzt, krächzt und näselt. Unter dem Gesichtspunkt der technischen Reinheit des Gesanges ist diese Platte unhörbar. Aber das waren alle anderen Dylan-Platten vorher auch schon.
Erwartet man aber gewohnten Dylan-Gesang, wird man ebenfalls enttäuscht. In den letzten 25 Jahren hat sich Bob mit seiner Stimme vorwiegend in den unteren Oktaven herumgetrieben, sehr textbewußt und groovig phrasiert und vor allem mit viel, viel Power sich ausgesungen. In den letzten Jahren entstand daraus vor allem live ein schwer erträgliches deklamatorisches Gebell, das nicht geeignet war, in irgendeiner Weise im Gedächtnis als Melodie haften zu bleiben.
Hier auf dieser CD betätigt sich Bob Dylan als Crooner. Das heißt: Man hat ihn seit Jahrzehnten nicht so weich singen gehört, so sanft, so schön, so vieltönig und genau und so metrisch. Denn auch wenn es vielen Hörern als Gejaule erscheint, was Dylan hier abliefert, ist es doch nach einer gewissen Eingewöhnungszeit rührend schön. Der kurzatmige Kris Kristofferson hätte das nicht so hinbekommen. Auch nicht der späte Cash. Wer "Life Is Hard" vom Together Through Life-Album mochte, hat gute Chancen, auch hiermit zurechtzukommen. Mich nervt ein bißchen die Fixierung am Metrum, die Schwere der Eins, die mich auch schon am Weihnachtsalbum störten, und das Zuviel an Pathos, das manchmal doch reingerutscht ist. Groove ist jedenfalls was Anderes.
Seine Stärke als vielfarbiger Stimmenkünstler spielt Dylan hier exzessiv aus. Soll heißen: Wunderte man sich bisher jährlich, daß Dylans Stimme eine andere (Klang-) Farbe hatte als im Jahr zuvor, schillern auf dieser CD die einzelnen Lieder in den unterschiedlichsten Farben. Damit ist eine Art der Klangfärbung gemeint, die Dylan schon immer perfekt beherrschte, obwohl er sie wahrscheinlich auch bloß intuitiv anwendet. Aber gerade dies macht - neben seiner eigenen Art zu phrasieren - die Größe seiner Interpretationen auch hier aus, die intensive Emotionalität, mit der er alles vorträgt (wenn er einen guten Tag hat, aber den hatte er bei diesen Aufnahmen im Studio garantiert).
Alles Andere ist da bloß noch Beiwerk: Die Tourband spielt sehr, sehr reduzierte, durchgehend langsame Arrangements, die ausschließlich den Zweck haben, der Stimme als Grundierung zu dienen. Entsprechend bescheiden wurden sie auch zusammengemixt. Die Akustikgitarre hört man fast gar nicht - das Schlagzeug noch seltener. Klangdominierend ist bei allen Songs die Steel Guitar (ein Freund schrieb mir, man höre sie bis Hawai!), die dem ganzen Klang auf diese Weise etwas gemütlich Fließendes, Warmes gibt. Zuweilen sind ein paar Bläser zu hören, aber auch die nimmt man nur wahr, wenn man ganz genau hinhört.
Die Band bleibt im Mix recht leise (ich hätte mir eine präsentere Rhythmusgruppe gewünscht und denke sie mir beim Hören manchmal dazu), dafür steht Bob Dylans Stimme laut und erschütternd nackt im Raum, mit all ihren Schönheiten, Schwächen und Wunden. Und ihrer Verletzlichkeit. Man hört ihn atmen und schniefen, so nah wird er durch diesen Mix herangeholt.
Verletzlichkeit und Wundheit scheinen mir den Gesamteindruck dieser Platte am besten zu beschreiben. Läßt man sich darauf ein, hier einen sehr melancholischen, verwundeten und noch mehr verletzlichen Gesang vor einer haltlos und rettungslos weich dahinfließenden Band zu hören, kann man sehr viel Schönes genießen.
Man muß sich nur schon beim ersten Song "I'm A Fool To Want You" von sämtlichen Erwartungen frei machen. Billie Holiday (die übrigens ebenfalls in diesem Jahr 100 geworden wäre - die entsprechende Würdigungsplatte "Coming Forth By Day" hat Cassandra Wilson bereits in die Startlöcher geschickt) hatte 1958 eine Orchesterversion davon eingesungen, die so tief einschlägt, daß man glaubte, niemand dürfe das Lied mehr singen. Dylans Herangehensweise ist vergleichsweise naiv. Er faßt das Lied als Countryschnulze auf, aber mit einem Text, den er hundertprozentig ernst nimmt. Eine Gänsehaut überläuft einen, wenn er halb trotzig, halb ersterbend singt: Take me back, I love you.
Höhepunkte lassen sich schwer ausmachen - das Werk ist ein durchgehendes Lamento ohne besondere Qualitätsschwankungen. Wenn man den Anfang mag, liebt man auch alles andere. Am Ende singt Dylan sehr ergreifend "Lucky Old Sun", ein Lied, das er in der zweiten Hälfte der 80er Jahre oft live gespielt hat, und schwingt sich dabei stimmlich zu schon lange verloren geglaubten Höhen auf. Das läßt einen fast vor Aufregung zittern, so spannend waren Dylan-Aufnahmen schon lange nicht mehr.
Was soll man nun den Leuten sagen, die hier kurz reinhören und (wie ich selbst nach den ersten drei Versuchen mit der vollständigen CD) sagen: Das ist alles furchtbar?
Nehmt Euch Zeit, laßt die Musik im Ohr reifen, hört sie mal wieder. Irgendwann wird sie Euch ergreifen und wahrscheinlich nicht mehr loslassen. So schön und konzentriert hat Dylan vielleicht noch nie gesungen wie auf diesem Album.
P.S.: Statt eines Booklets liegt der CD eine beidseitig bedruckte Pappe bei. Die Rückseite zeigt ein ca. 20 Jahre altes Bild von Dylan, der, an einem Cafehaustisch sitzend, eine Single-Vinyl in der einen Hand hält und die andere um eine üppige maskierte Frau schlingt. Was sagt uns das? Die Idee, hundebeinalte Bilder auf die Platten zu drucken, ist bei Dylan auch nicht neu. Auch das Bild auf der Vorderseite ist ja nicht aus den letzten fünf Jahren. Vielleicht will er den Eindruck erwecken, er sei jünger, und die Gegenstände, von denen in den Liedern die Rede ist, seien noch Gegenwart. Zumindest klingt er ja für einen 73-Jährigen noch sehr gut, die Stimme farbenreich, dynamisch und voll. Bei allem Schimpfen über Bob Dylans Gesang muß man sich doch mal die Frage stellen, wer in dem Alter eigentlich besser singt?
P.P.S.: Wer die Möglichkeit hat, eine LP abzuspielen, dem sei empfohlen, sich die LP zuzulegen. Die klingt nochmal besser: Die Instrumente klingen natürlicher und sind besser auseinanderzuhalten; Dylans Stimme authentischer und "menschlicher"; auch scheint das Verhältnis Stimme-Band besser ausbalanciert zu sein.
Die LP-Version enthält ja auch die CD und drei Postkarten, also kann man für wenige Euro mehr nicht viel falsch machen.Vielleicht bin ich nicht gerade berufen, diese Platte zu kritisieren, denn als halbwegs jungem Hörer sind mir von den hier dargebotenen Liedern nur die Hälfte bereits bekannt. Aber keines von ihnen in einer Version von Frank Sinatra! Ich kenne und schätze Sinatra, aber ergriffen war ich von seinen Interpretationen bisher nie. Wahrscheinlich ist dies nicht die schlechteste Voraussetzung, um sich mit dieser Scheibe anzufreunden, auch wenn es für Dylan offenkundig eine Herzensangelegenheit ist, zum 100. Geburtstag Sinatras diese Hommage vorzulegen.
Von Bob Dylan hingegen kenne ich nicht nur alles, was der Mann im Laufe der Jahre veröffentlicht hat, sondern habe ihn auch oft im Konzert erlebt und Hunderte von Konzertmitschnitten gehört, und das seit mehr als 20 Jahren. Obwohl ich weiß, daß Dylan auch seine Fans immer wieder mit Hör-Herausforderungen konfrontiert, sie überrascht, plötzlich eine andere Richtung einschlägt als die, in die man gerade guckt, habe ich doch bestimmte Erwartungen an ein neues Dylan-Album oder auch einen Live-Auftritt von ihm, die bisher zumindest teilweise immer erfüllt wurden. Dieses Album bricht mit allen Erwartungen. Mit allen.
Es ist ja überliefert, daß Bob Dylan schon seit Menschengedenken mal ein Album mit großem Orchester aufnehmen wollte. 1994 hat er in Japan live demonstriert, wie das dann ungefähr klingt. Originell ist diese Idee heutzutage nicht mehr, Kollegen haben inzwischen mehr oder weniger unhörbare Aufnahmen mit großem Orchester vorgelegt. Als das einzige wirklich gelungene Experiment dieser Art sehe ich Joni Mitchells "Travelogue" an.
Nun also die Lieder, die der ganzen Welt in Orchesterversionen bekannt sind, mit kleiner Tourband. Auch das ist nicht so originell, wie Dylan glauben machen will. Seit Jahrzehnten spielen kleine Bands diese Songs in den Clubs und kann man sich Jazz-Versionen dieser Lieder auf Tonträgern anhören. Aber Dylan hat weder eine Jazz-Band, noch ist er Jazz-Sänger, auch wenn seine unerschöpfliche Kreativität sich oft jahrelang ausschließlich darin ausdrückt, daß er im Konzert die Lieder jeden Abend völlig anders singt - anders phrasiert und mit anderen Melodien. Am nächsten ist ihm wohl zur Zeit Willie Nelson, der unter anderem das auch hier vorgetragene Lied "What'll I Do" erst im letzten Jahr sehr, sehr reduziert nur zur Gitarre und zum Piano singend dargeboten hatte.
Bekannt ist auch, daß Dylan beim Covern von Songs oft eine berührende Ehrfurcht walten läßt, die ihm fremde Songs gerade nicht so zu verfremden gestattet, wie er es mit seinen eigenen Liedern tut. Betrachtet man einen Song bildlich als einen Berg, den es zu bezwingen gilt, so zieht Dylan es vor, seine eigenen Songs kurz und klein zu hacken und sich dann durch die Bruchstücke zu schlängeln. Fremde Songs behandelt er wie jeder andere als Berge und besteigt sie mühevoll und setzt sich dabei mit ihnen auseinander.
Hier auf dieser Platte tut Dylan zwar viel Unerwartetes, aber doch immer noch das, was er schon immer getan hat: Er nimmt die Songs, die er liebt, und klettert auf ihnen herum. Das klingt nicht immer besonders schön, egal welche Schönheitsideale man zum Vergleich heranzieht.
Gesangstechnisch kommt Dylan an keinen ausgebildeten oder besonders erfahrenen Sänger heran. Er trifft neben die Töne, kann die Töne nicht halten (versucht es aber hier leider zu oft), bricht Töne ab, knarzt, krächzt und näselt. Unter dem Gesichtspunkt der technischen Reinheit des Gesanges ist diese Platte unhörbar. Aber das waren alle anderen Dylan-Platten vorher auch schon.
Erwartet man aber gewohnten Dylan-Gesang, wird man ebenfalls enttäuscht. In den letzten 25 Jahren hat sich Bob mit seiner Stimme vorwiegend in den unteren Oktaven herumgetrieben, sehr textbewußt und groovig phrasiert und vor allem mit viel, viel Power sich ausgesungen. In den letzten Jahren entstand daraus vor allem live ein schwer erträgliches deklamatorisches Gebell, das nicht geeignet war, in irgendeiner Weise im Gedächtnis als Melodie haften zu bleiben.
Hier auf dieser CD betätigt sich Bob Dylan als Crooner. Das heißt: Man hat ihn seit Jahrzehnten nicht so weich singen gehört, so sanft, so schön, so vieltönig und genau und so metrisch. Denn auch wenn es vielen Hörern als Gejaule erscheint, was Dylan hier abliefert, ist es doch nach einer gewissen Eingewöhnungszeit rührend schön. Der kurzatmige Kris Kristofferson hätte das nicht so hinbekommen. Auch nicht der späte Cash. Wer "Life Is Hard" vom Together Through Life-Album mochte, hat gute Chancen, auch hiermit zurechtzukommen. Mich nervt ein bißchen die Fixierung am Metrum, die Schwere der Eins, die mich auch schon am Weihnachtsalbum störten, und das Zuviel an Pathos, das manchmal doch reingerutscht ist. Groove ist jedenfalls was Anderes.
Seine Stärke als vielfarbiger Stimmenkünstler spielt Dylan hier exzessiv aus. Soll heißen: Wunderte man sich bisher jährlich, daß Dylans Stimme eine andere (Klang-) Farbe hatte als im Jahr zuvor, schillern auf dieser CD die einzelnen Lieder in den unterschiedlichsten Farben. Damit ist eine Art der Klangfärbung gemeint, die Dylan schon immer perfekt beherrschte, obwohl er sie wahrscheinlich auch bloß intuitiv anwendet. Aber gerade dies macht - neben seiner eigenen Art zu phrasieren - die Größe seiner Interpretationen auch hier aus, die intensive Emotionalität, mit der er alles vorträgt (wenn er einen guten Tag hat, aber den hatte er bei diesen Aufnahmen im Studio garantiert).
Alles Andere ist da bloß noch Beiwerk: Die Tourband spielt sehr, sehr reduzierte, durchgehend langsame Arrangements, die ausschließlich den Zweck haben, der Stimme als Grundierung zu dienen. Entsprechend bescheiden wurden sie auch zusammengemixt. Die Akustikgitarre hört man fast gar nicht - das Schlagzeug noch seltener. Klangdominierend ist bei allen Songs die Steel Guitar (ein Freund schrieb mir, man höre sie bis Hawai!), die dem ganzen Klang auf diese Weise etwas gemütlich Fließendes, Warmes gibt. Zuweilen sind ein paar Bläser zu hören, aber auch die nimmt man nur wahr, wenn man ganz genau hinhört.
Die Band bleibt im Mix recht leise (ich hätte mir eine präsentere Rhythmusgruppe gewünscht und denke sie mir beim Hören manchmal dazu), dafür steht Bob Dylans Stimme laut und erschütternd nackt im Raum, mit all ihren Schönheiten, Schwächen und Wunden. Und ihrer Verletzlichkeit. Man hört ihn atmen und schniefen, so nah wird er durch diesen Mix herangeholt.
Verletzlichkeit und Wundheit scheinen mir den Gesamteindruck dieser Platte am besten zu beschreiben. Läßt man sich darauf ein, hier einen sehr melancholischen, verwundeten und noch mehr verletzlichen Gesang vor einer haltlos und rettungslos weich dahinfließenden Band zu hören, kann man sehr viel Schönes genießen.
Man muß sich nur schon beim ersten Song "I'm A Fool To Want You" von sämtlichen Erwartungen frei machen. Billie Holiday (die übrigens ebenfalls in diesem Jahr 100 geworden wäre - die entsprechende Würdigungsplatte "Coming Forth By Day" hat Cassandra Wilson bereits in die Startlöcher geschickt) hatte 1958 eine Orchesterversion davon eingesungen, die so tief einschlägt, daß man glaubte, niemand dürfe das Lied mehr singen. Dylans Herangehensweise ist vergleichsweise naiv. Er faßt das Lied als Countryschnulze auf, aber mit einem Text, den er hundertprozentig ernst nimmt. Eine Gänsehaut überläuft einen, wenn er halb trotzig, halb ersterbend singt: Take me back, I love you.
Höhepunkte lassen sich schwer ausmachen - das Werk ist ein durchgehendes Lamento ohne besondere Qualitätsschwankungen. Wenn man den Anfang mag, liebt man auch alles andere. Am Ende singt Dylan sehr ergreifend "Lucky Old Sun", ein Lied, das er in der zweiten Hälfte der 80er Jahre oft live gespielt hat, und schwingt sich dabei stimmlich zu schon lange verloren geglaubten Höhen auf. Das läßt einen fast vor Aufregung zittern, so spannend waren Dylan-Aufnahmen schon lange nicht mehr.
Was soll man nun den Leuten sagen, die hier kurz reinhören und (wie ich selbst nach den ersten drei Versuchen mit der vollständigen CD) sagen: Das ist alles furchtbar?
Nehmt Euch Zeit, laßt die Musik im Ohr reifen, hört sie mal wieder. Irgendwann wird sie Euch ergreifen und wahrscheinlich nicht mehr loslassen. So schön und konzentriert hat Dylan vielleicht noch nie gesungen wie auf diesem Album.
P.S.: Statt eines Booklets liegt der CD eine beidseitig bedruckte Pappe bei. Die Rückseite zeigt ein ca. 20 Jahre altes Bild von Dylan, der, an einem Cafehaustisch sitzend, eine Single-Vinyl in der einen Hand hält und die andere um eine üppige maskierte Frau schlingt. Was sagt uns das? Die Idee, hundebeinalte Bilder auf die Platten zu drucken, ist bei Dylan auch nicht neu. Auch das Bild auf der Vorderseite ist ja nicht aus den letzten fünf Jahren. Vielleicht will er den Eindruck erwecken, er sei jünger, und die Gegenstände, von denen in den Liedern die Rede ist, seien noch Gegenwart. Zumindest klingt er ja für einen 73-Jährigen noch sehr gut, die Stimme farbenreich, dynamisch und voll. Bei allem Schimpfen über Bob Dylans Gesang muß man sich doch mal die Frage stellen, wer in dem Alter eigentlich besser singt?
P.P.S.: Wer die Möglichkeit hat, eine LP abzuspielen, dem sei empfohlen, sich die LP zuzulegen. Die klingt nochmal besser: Die Instrumente klingen natürlicher und sind besser auseinanderzuhalten; Dylans Stimme authentischer und "menschlicher"; auch scheint das Verhältnis Stimme-Band besser ausbalanciert zu sein.
Die LP-Version enthält ja auch die CD und drei Postkarten, also kann man für wenige Euro mehr nicht viel falsch machen.