''I hope we passed the audition...'' (John Lennon, 30.1.1969)
The Beatles: Let It Be (Limited 50th Anniversary Super Deluxe Special Edition) (4 LPs/1 EP, 180g Half-Speed Mastering, Laufzeit 165 Minuten, 108-seitiges Buch, 2021)
Selten hat eine neue Veröffentlichung der Beatles für derart kontroverse Vorab-Diskussionen gesorgt wie diese Neuauflage ihres letzten Albums ''Let It Be''. Worüber wurde im Vorfeld nicht alles gemeckert: Kein Roof Top-Gig, keine schnelle Version von ''Two Of Us'', weder ''Commonwealth'' noch ''Suzy Parker'', das ''Get Back''-Album von Glyn Johns schnöde von krächzenden Bootlegs kopiert und dann überhaupt die Musik von zwei CDs auf fünf CDs aufzublähen - eine Unverschämtheit! Obendrein haben ein paar ganz Schlaue noch festgestellt, dass sogar die Schriftart nicht mehr dem Original entspricht - also nee, wer soll sich sowas kaufen?
Ganz ehrlich: Ich bin auch nicht über die auf den ersten Blick dürftig erscheinende Ausbeute an neuen Outtakes begeistert. Zumal, wenn man an die weit über 100 Stunden Bandmaterial denkt, die während der sog. ''Get Back''-Sessions im Januar 1969 aufgenommen wurden. Wobei - nüchtern betrachtet - vieles davon nur wie langweiliges Herumgeschrammel ohne echte Highlights erscheint, aber für den Fan natürlich unverzichtbar ist. Gut, jammern wir nicht über das herum, was NICHT drauf ist, sondern konzentrieren uns auf das, was uns die Deluxe-Sets bieten.
Zunächst wäre das: Eine ansprechend gestaltete Box, bei der man durch vier Ausstanzungen die Fotos der Beatles sehen kann. Ist doch schon ganz hübsch. Merkwürdig allerdings: Wenn die Vorderseite der Box oben liegt, befindet sich die Öffnung auf der linken Seite...? Hm.
LP- und CD-Boxen unterscheiden sich deutlich in der Größe, was auf den Produktfotos nicht auf Anhieb ersichtlich ist. Demgemäß sind auch die Bücher unterschiedlich groß: 31x31 cm in der LP-Kiste, nur 25x30 cm bei den CDs. Auch erscheint das Buch der LP-Box dank Hochglanz-Einband und etwas stärkerem Papier hochwertiger als das der CD-Box. Inhaltlich ist bis auf die Hinweise bzgl. LPs/CDs kein Unterschied feststellbar, nur wurde das Layout von Texten und Bildern dem jeweiligen Format angepasst.
Das Buch widmet sich, anders als das drei Tage zuvor erschienene ''Get Back''-Buch (siehe Produktempfehlung), größtenteils dem musikalischen Inhalt dieser Box. Die graphische Gestaltung ähnelt dabei ein wenig dem ''Scrap-Book'' aus der 2021er Harrison-Box zu ''All Things Must Pass'': Das Ganze ist collagenartig, fast schon nostalgisch anmutend zusammengefügt, aber alles andere als langweilig strukturiert. Paul McCartney, Giles Martin und Glyn Johns schildern ihre Sicht des Ganzen, John Harris hinterfragt Mythos und Wirklichkeit der Aufnahmesessions, Kevin Howlett steuert den Haupttext des Buches bei.
Zu jedem Song der ''Let It Be''-LP sowie einigen weiteren sind ausführliche Aufnahmedaten sowie zusätzliche Infos abgedruckt, die Daten der LPs 2-5 muss man sich jedoch im Text etwas mühsam zusammensuchen. Zahlreiche Fotos und die inzwischen obligatorischen Tape-Boxen lockern das Ganze auf. Sehr schön, genau so habe ich mir das gewünscht.
Die Platten stecken in gefütterten Innenhüllen in separaten Covern, wobei sich LPs 2 und 3 ein Klappcover teilen. Die Aufmachung überzeugt, vor allem das Cover der ''Get Back''-LP (Nr. 4) ist eine echte Augenweide (auch wenn man den Hinweis auf Angus McBean verschludert hat, der das Coverfoto schoss - genauso wie das der ersten Beatles-LP ''Please Please Me''). Info am Rande: Die CDs/BluRay stecken in separaten Papphüllen, die in einem zusätzlichen Aufklappcover untergebracht sind.
Ich bewerte hier die Vinyl-Box, aber da LPs und CDs das Gleiche enthalten (die Blu-Ray beinhaltet noch einmal zusätzliche Dolby/DTS/High Res-Abmischungen des eigentlichen Albums, also OHNE die Tracks der CDs 2-5!), gilt das hier Geschriebene vom musikalischen Inhalt her auch für die CD-Box.
LP 1 (35:11 Minuten)
präsentiert uns das Album ''Let It Be'' im neuen Remix. Wie bei Giles Martin und Sam Okell üblich, ist die neue Abmischung klarer, aber auch etwas bassstärker als das Original. Ansonsten sind die Unterschiede nur marginal, sodass man schon genauer hinhören muss. Dann allerdings besticht z.B. ''Two Of Us'' durch John und Pauls stereomäßig etwas getrennte Stimmen, bei ''Let It Be'' werden wir mit einem ebenfalls in stereo abgemischten Piano sowie einer insgesamt erweiterten Räumlichkeit überrascht.
In diesem Sinne geht es weiter, selbst so ein Schnipsel wie ''Maggie Mae'' gewinnt durch den neuen Mix. Bei ''The Long And Winding Road'' sind die Beatles nun deutlicher zu hören, obwohl der Song nach wie vor mit Orchester und Chor zugezuckert wird. Immerhin wird Pauls Klavierspiel am Ende nicht mehr völlig unter der Harfe begraben. ''Get Back'' schließlich beginnt mit einem zwar klaren, aber etwas verstümmelten Gitarrenakkord, klingt dann aber sogar noch eine Nuance frischer als auf ''Let It Be... Naked'' von 2003.
Insgesamt gefällt mir der neue Mix. Und um noch einen netten Gruß an die Nörgelfraktion loszuwerden: Allein bis jetzt haben wir mit ''Dig A Pony'', ''I've Got A Feeling'' und ''One After 909'' schon drei Aufnahmen des Roof Top-Gigs gehört!
LP 2 (40:52 Minuten)
enthält 14 Tracks der Apple-Sessions, schön chronologisch vom 22.-31.1.1969 geordnet (Track 14 ist vom 3.1.1970). Einiges kennen wir dabei schon von ''Fly On The Wall'', das dem 2003er Album ''Let It Be... Naked'' beilag. Georges Anspielung auf Dave Dee, Dozy, Beaky, Mick & Tich aus ''I Me Mine'' war z.T. schon auf ''Anthology 3'' zu hören, hier ist nun auch Pauls Reaktion darauf enthalten.
Auf dieser Platte begegnen sich Licht und Schatten: ''Can You Dig It?'', ''Get Back'' [Take 19] und besonders die rockige Version von ''One After 909'' [Take 3] sind echte Highlights, während Studio-Diskussionen wie ''I Don't Know Why I'm Moaning'' - zumindest für mich - den Hörgenuss deutlich trüben. Aber gut, manche mögen ja auch solche Gesprächsfetzen.
Ach so, auch ''Don't Let Me Down'' ist hier in der Roof Top-Version vom 30.1.1969 zu hören. Nun sind's schon vier...
Auf LP 3 (32:42 Minuten)
gibt es dann Rehearsals und Apple Jams. Auch diese sind in der ''richtigen'' Reihenfolge zu hören: Die ersten vier Songs wurden vom 2.-8.1.1969 in Twickenham aufgenommen, die übrigen stammen wiederum aus den Apple-Studios. Erneut sind Ausschnitte oder sogar vollständigere Aufnahmen der Tracks bereits auf ''Let It Be... Naked'' und ''Anthology 3'' enthalten.
Ich nehme es gleich vorweg: Mit dieser Platte kann ich am wenigsten anfangen. So sehr ich auch Studio-Outtakes mag, hier sind meist nur unfertige Übungs-Sessions zu hören. Interessant für Beatles-Infizierte, aber sehr oft werde ich diese Scheibe nicht auflegen. Auch haben die meisten Songs nichts mit ''Let It Be'' zu tun, sondern sind später auf der LP ''Abbey Road'' erschienen. Warum hat man sie dann nicht gleich vor zwei Jahren auf deren Deluxe Edition gepackt?
Aber gut, immerhin stellt uns John mit ''Gimme Some Truth'' kurz einen neuen Song vor, den er später solo aufnehmen wird. Auch Take 8 von ''Get Back'' gefällt mir gut, und bei ''Without A Song'' darf dann sogar Billy Preston mal ran ans Mikro. Auch Take 28 von ''Let It Be'' steht eindeutig auf der Plus-Seite: Er war für mich nicht nur ein absolutes Highlight des gleichnamigen Films, sondern mit genau dieser Aufnahme endeten damals die ''Get Back''-Sessions.
LP 4 (42:55 Minuten)
Nun wird es Zeit für den 1969er Glyn Johns Mix des Albums. Auch hier haben die Experten was zu meckern: Zunächst sind diese Aufnahmen einfach von einem Bootleg gezogen worden, da man bei Apple die Original-Bänder verschusselt hat. Scheint zu stimmen, wenn ich die Aufnahmen mit den entsprechenden Raubpressungen vergleiche und hier und da signifikante Ähnlichkeiten feststellen kann. Trotzdem klingen die Sachen nun klar besser.
Außerdem soll es in Wirklichkeit der Mix von 1970 sein, was man gleich an den vertauschten Stereo-Kanälen merkt. OK, wenn's nicht mehr ist, stöpseln wir jetzt einfach die Lautsprecher um oder setzen den Kopfhörer anders herum auf.
Dann aber tun sich plötzlich Welten auf: Schon ''One After 909'' ist einfach klasse und steckt mit seiner tollen Stereo-Abmischung selbst den 2021er Martin/Okell-Mix in die Tasche. Bei den anderen Titeln fällt auf, dass Glyn Johns den Studio-Gesprächen etwas mehr Raum lässt, was in diesem Zusammenhang gar nicht mal schlecht ist.
''For You Blue'' wartet dann mit einer echten Überraschung auf: hier ist eine andere, neu aufgenommene Gesangsspur von George Harrison zu hören, die sich spürbar von denen auf den Bootlegs unterscheidet. OK - damit handelt es sich wohl wirklich um den ''neuen'' Mix von 1970. Ist das jetzt schlimm? Nein, für mich ist das eher eine willkommene Ergänzung!
Einige Songs sind in einem anderen Aufnahmetake als auf dem endgültigen Album dabei, weitere wie das ''Medley: I'm Ready (Aka Rocker) / Save The Last Dance For Me / Don't Let Me Down'' oder ''Teddy Boy'' fehlen auf der ''richtigen'' LP gänzlich.
''Dig It'' ist mit über vier Minuten deutlich länger und enthält sogar noch Pauls Gesang, der später herausgemischt wurde. ''The Long And Winding Road'' war in genau dieser Version schon auf ''Anthology 3'' enthalten, klingt hier jedoch etwas unsauber. ''Get Back'' noch einmal als Reprise an den Schluss des Albums zu setzen, ist für mich auch keine schlechte Idee. Trotzdem: Sämtliche Vorschläge Glyn Johns' wurden seinerzeit von den Beatles abgelehnt, bevor sich Phil Spector der Sache annahm und... den Rest kennen Sie.
Und nun stellen wir den Plattenspieler auf 45 Upm, denn...
LP 5 (13:20 Minuten)
... gilt eigentlich als EP oder Maxi-Single. Vier Titel enthält dieses Teil, und ich muss sagen, die hätten auch noch auf die anderen Platten gepasst.
Zwei davon - ''Across The Universe'' und ''I Me Mine'' - sind 1970er Mixe von Glyn Johns, die bisher nur auf Raubpressungen veröffentlicht waren (wobei vor allem ''I Me Mine'' sogar ein wenig danach klingt). Die beiden anderen Songs erklingen im neuen 2021er Sound, bei denen die Unterschiede zu den bisherigen Veröffentlichungen wieder sehr subtil sind, sieht man von der halben Minute Studio-Gespräch vor ''Dont Let Me Down'' ab.
Nach insgesamt 165 Minuten ist der Spaß vorbei. Für die LPs ist das OK, wobei der Wunsch nach mehr Musik auch hier bestehen bleibt.
Kommen wir zur Qualität der Pressungen. Die LPs wurden bei Optimal gefertigt und sind einfach top. In der letzten Zeit habe ich selten derart rausch- und knisterfreie Platten gehört. Einziger Wermutstropfen ist die nicht ganz korrekte Zentrierung von LP 1, die sich aber nicht weiter negativ bemerkbar macht. Das Mastering (Half-Speed von Miles Showell) ist ebenfalls fehlerfrei. Das entsprechende Zertifikat hat man sich diesmal offenbar gespart, stattdessen weist ein Werbezettel auf die CD-Box und das ''Get Back''-Buch hin.
Diese Box bildet (bis jetzt) einen würdigen Abschluss der Beatles-Alben als Deluxe-Ausgabe. Die fünf Sterne vergebe ich in voller Überzeugung.