5 von 5
jommelli
Top 50 Rezensent
29. Oktober 2020
Gesamteindruck:
5,0 von 5
Künstlerische Qualität:
5,0 von 5
Repertoirewert:
5,0 von 5
Hochinteressanter oratorischer Seitenweg
Die vorliegende erste Einspielung eines größeren Werks von A.B. Marx überhaupt ist in vieler Hinsicht bemerkenswert: Zum einen bekommt man die Gelegenheit, einen ungerechterweise vergessenen Komponisten, der bislang nur als lexikalische musikwissenschaftliche Größe bekannt war, kennenlernen zu dürfen, zum anderen stellt der Mose aus dem Jahre 1841 eine sehr ernstzunehmende Alternative zu Mendelssohns und Spohrs Oratorien dar.
Kaum eine Phrase, die einen nicht an die beiden obengenannten Komponisten, an Händel oder bisweilen auch Bach erinnern würde- doch in der dramaturgischen Verbindung der einzelnen formalen Elemente betritt Marx absolutes Neuland. Die drei großen jeweils ca. 40 Minuten langen Teile sind kantatenartig durchkomponiert, man kann (und soll) kaum zwischen Rezitativ und Arioso, beides immer wieder von Chören durchsetzt, unterscheiden. Tatsächlich gibt es hier (nicht aber in der trotz einiger jäher Modulationen und einem ungewöhnlich breiten Tonartenspektrum eher konservativ-diatonischen Tonsprache) Parallelen zu Wagners Ästhetik. Am stärksten war ich von den komplexen fünf- bis achtstimmigen Chören beeindruckt. Die kontrapunktische Meisterschaft ist oftmals verblüffend, ohne dass Marx (völlig anders als Mendelssohn) auch nur eine einzige regelkonforme Fuge dabei verwendet hätte.
Die Instrumentation ist durchaus originell: Mal extrem hoch geführte, ätherische Violinen, mal prächtiges, durch ein ungewöhnliches Tenorhorn verstärktes Blech oder überraschend aufleuchtende Holzbläsersoli. Man weiß als Zuhörer nie genau, was einen als nächstes erwartet-und diese Unvorhersehbarkeit in allen Parametern ist eine der größten Stärken dieses Oratoriums. So verwundert es auch nicht, dass der beim ersten Hören fast befremdlich wirkende archaische Schluss allen traditionellen Erwartungen radikal entgegenläuft. Viel weniger begabt war der Komponist hingegen als Melodiker: Was vokalen Schmelz anbelangt, bleibt sein Melos klar hinter den berühmteren Zeitgenossen zurück, was das Hören manchmal recht anstrengend macht.
Insgesamt merkt man dem gesamten Werk deutlich an, dass A.B. Marx ein um Originalität bemühter, sehr begabter Vertreter seines Fachs, aber eben kein epochales Genie wie Mendelssohn oder Wagner war. Ob sich sein Mose in den Konzertprogrammen auf Dauer durchzusetzen vermag, bleibt abzuwarten. In jedem Falle lohnt die nähere Beschäftigung mit diesem Werk. Ich werde mir sicherlich den bald bei Breitkopf erscheinenden Klavierauszug besorgen.
Die Interpretation durch den fabelhaften Gewandhauschor und die auf Originalinstrumenten spielende Camerata Lipsiensis (eine Nennung der einzelnen Musiker fehlt leider im Beiheft) ist vorzüglich. Minimale Abstriche kann man nur bei kleineren, der Livesituation geschuldeten Unsauberkeiten und stimmlichen Spannungen bei den Gesangssolisten und einigen störenden Nebengeräuschen machen.
Insgesamt stellt diese Weltpremiere eine der interessantesten Neueinspielungen im Bereich romantischer geistlicher Musik der letzten Jahre dar. Klare Kaufempfehlung!