Under pressure - Venzago dirigiert Bruckner 2
Die von mir kürzlich angschaffte Einspielung der zweiten Symphonie mit der Northern Sinfonia (Gateshead) unter Leitung von Mario ist zugleich die außergewöhnlichste in meinem kleinen Bruckner-Regal. Ich hatte im Vorfeld bereits etwas zu Venzagos gegenwärtig entstehenden Brucknerzyklus gelesen, war aber bisher noch nicht versucht, etwas davon anzuschaffen. Dieser Zustand ist nun Vergangenheit, der Zyklus wird peu à peu gekauft.
Venzago Motivation für die Einspielung seines Bruckner-Zyklus' ist es, einen "anderen Bruckner" zu präsentieren, einen Bruckner, der von seiner Aufführungstradition befreit wird:
"Wie man beobachten kann, hat sich bei Bruckner eine Tradition des Massigen etabliert, die sich von Generation zu Generation weiter vererbt. Das Lärmige, Dicke, das Pathetische, das protzige, die sich aufrecht an den Taktstrichen entlang hangelnde Behäbigkeit, eine neoklassizistische Motorik, das alles hat sich erhalten und gilt als Bruckners Stil. [...] Auch wird 'aufgerüstet'. Mit 20 Ersten Violinen kommen die großen Sinfonieorchester daher, wenn es um den Linzer Meister geht. Aber Bruckner hatte für die frühen seiner Sinfonien gerade mal 8 Erste Violinen (für die Linzer gar nur 6) zur Verfügung, die Hörner klangen ungleich leiser als die heutigen Instrumente, Posaunen und Trompeten spielten farbiger, sanft und gesanglich, Fortefortissimi sind relative Werte und meinen nicht brachiale Gewalt, [...]." (Venzago im Booklet zur gezeigten Aufnahme, S. 5 f.)
Aus den Ausführungen Venzagos - die das gesamte, höchst interessante, weil Einblick in die Dirigentenwerkstatt gewährende Booklet füllen - wird schon vor dem Hören deutlich, was auf den Hörer zukommen wird. Und Venzago scheint ein Mann seines Wortes zu sein, denn er setzt seinen Blick auf Bruckner mit absoluter Konsequenz um.
Schon der erste Einsatz macht das deutlich. Wir hören einen deutlich verschlankten Streicherapparat, die Celli setzen vollkommen virbratolos, mit einem fast barocken Ton ein. Das Tempo ist hoch, der Gesamtklang ausgesprochen durchsichtig, vielleicht sollte man sogar eher sagen: licht. Die Trompetenfanfaren werden nicht herausgeschmettert, sondern sind in den Gesamtklang integriert. Auch bei kompletten Blecheinsätzen im Forte werden die anderen Instrumentengruppen klanglich nie überlagert. Das zweite Thema nimmt Venzago leicht und tänzerisch. Im Verlauf des Satzes wird deutlich, dass sich Venzago sehr genau an die agogischen und dynamischen Vorgaben Bruckners hält. Jeder Abschnitts- und jeder Tempowechel wird hörbar gemacht, oft nutzt Venzago hier ein klares Rubato, wobei das immer höcht organisch und wenig gewollt wirkt. Mit diesen Mitteln formt Venzago ein höchst dramatisches Geschehen.
Im Andante kann Venzago das hohe Niveau halten. Die lichte, kammermusikalische Qualität seines Musizierens kommt dem hochromantischen Chakater dieses Satzes, der hier fast wie ein Notturno gespielt wird, sehr entgegen. Lediglich bei der mE ungeheuer wichtigen und höchst atmosphärischen 12/8-Stelle hätte ich mich dann doch über eine etwas größere Geste, einen Moment des etwas volleren Klanges, einen etwas goldeneren Sonnenaufgang gefreut.
Das Scherzo ist auf den Punkt hin musiziert, endlich einmal horizontal, nicht klobiges Gestampfe, sondern als unter Hochdruck nach vorn strebende Bewegung. Das Trio ist eher langsam und klingt weniger lyrisch, sondern eher gehemnisvoll. In der Coda dann erstmals in der ganzen Aufnahme mit sehr starker Pauke. Eindrucksvoller Effekt.
Das Finale ist dann in der Tat "ziemlich schnell". Es geht sozusagen die Post ab. Man überlege sich, dass Venzago sieben Minuten schneller ist als beispielsweise der behäbige Maazel. Dabei ist nicht einfach alles ratzfatz heruntergefiedelt. Venzago ist in den schnellen Passagen einfach nur sehr flott. Das zweite Thema wird - wie es mE sein sollte - angenehm lieblich, ja geradezu sanft angegangen. Dann bricht wieder der Sturm los bis zu der großen drei Takte währenden Pause, auf die Venzago einen ganz herrlich mystisch präsentierten, die Musik der Renaissance evozierenden Choral folgen lässt. Eine wilde Coda beendet diesen Satz und eine Aufnahme, die man mE gehört haben sollte.