5 von 5
Anonym
23. Juli 2017
Gesamteindruck:
5,0 von 5
Künstlerische Qualität:
5,0 von 5
Repertoirewert:
5,0 von 5
Frische musikalische Nordseeluft... ein Leben am bewegten Meer erfrischend natürlich
Ich hatte doch eigentlich den richtigen Riecher. Nicht alle Warnungen vor den Gefahren der Romantik liegen immer richtig. Jedenfalls haben sich kritische Stimmen zu dieser musikalischen CD-Exkursion eigentlich als unbegründet herausgestellt:
-- Hengelbrock hat mit diesen beiden Sinfonien von Brahms (Nr 3 + 4) ein lebhaftes farbiges Naturgemälde der Nordsee geschaffen, das so nur erwünscht sein kann!
Ich persönlich möchte diese CD hinsichtlich der Klangtechnik und Interpretation nur weiterempfehlen. Wer natürlich an seinen klassischen Brahms-Aufnahmen von Bruno Walter, Evgeny Svetlanov, Yondani Butt und Günter Wand festhalten will, soll dies tun. An diesen Maßstäben ist ja auch nicht zu rütteln.
Aber einer der Gründe, zu einer neueren Aufnahme zu greifen, liegt gelegentlich klar auf der Hand: die Interpretationskultur hat sich generell tatsächlich positiv weiterentwickelt. Was man schon am Hollywood-Kino erkennen kann, - durchaus tendenziell immer ausgefeiltere Methoden, Kunstfertigkeiten, ethische und ästhetische Erkenntnisse, - macht auch vor Intellekt, musikalischer Kultur keinen Halt. So wie sich die Malerei und Musik einst und der Kinofilm heute relativ weiterentwickelte, verbessert sich auch die Interpretation der klassisch-romantischen Orchestermusik (Stichwort: man muss sich Neues einfallen lassen).
So hat sich offenbar auch Hengelbrock diesem Fortschritt verschrieben. Was sich hier zeigt, ist nun echt kein Brahms für misantropische Außenseiter, als trockener Nordsee-Dörrfisch, in irgend einer Akademiker-Schublade lange haltbar.
Vollblutmensch der nordischen See:
Hier geht es darum, Brahms lebensnah und wirklichkeitsreal zu vermitteln, als echt humanen nordischen Vollblutmenschen. Schon die ganze Art, mit der Musik anregend naturmalerisch umzugehen und dabei natürlich attraktiv ohne Schulmeisterei zu überzeugen, gelingt völlig. Die für Brahms typische elegische Breite wird nie zu trockener Depression, sondern entspricht dem Naturell der Schwere der See. Das Ganze bleibt also stets vital, Leichtes, Mittleres und Schweres wird durch beherztes Zugreifen nebeneinander beherrscht. Das Ganze ist von der Mentalität her tatsächlich erfrischend durchmischt.
Vielleicht auch mehr tiefblauer Atlantik als Nordsee:
Es gleicht eher einem Tongemälde des Lebens an und auf der See, mit Mitteln der absoluten Musik. Und es ist so vielleicht nicht eine stille See, mit graubraun trüben Wasser, sondern durchaus tiefblau, wuchtig intensiv und kraftvoll, vergleichbar der portugiesischen, französischen und irischen Atlantikküste. Das Tiefblau ist stets auch "süß". Mir gefällt das sehr! Erinnert durchaus an Mendelssohns Hebriden-Ouvertüre oder seine "Meeresstille und glückliche Fahrt". Aber doch hat es die Mentalität der herben und schwerblütigen nordeutschen Landschaft. Diese Mischung macht es anregend. Und Hengelbrock setzt das so interessant um. Was ich hier schreibe, ist ein Ergebnis aus meinem persönlichen Höreindruck und welche Naturmentalität es auf mich vermittelte.
Die Klangtechnik der CD finde ich genial. Wenn das der Klang der neuen Philharmonie ist und nicht zu sehr technisch nachgearbeitet, hätte sie zu Recht einen guten Ruf. Wie auch immer. Jedenfalls entdecke ich eine ideale Mischung aus Hall und Farbe, nicht zu wässrig und bzw. nicht zu trocken.
Das Booklet ist informativ und gibt sogar gute farbliche Eindrücke der Konzerthalle wieder, die offenbar eine Art "Bionik-Stil" repräsentiert. Das ist nicht zu "unromantisch", denn auch die Romantiker nutzten die Natur für ihre Art von architektonischer Natursprache. Gleichzeitig werden auch hinreichende Informationen zu Hengelbrocks Intentionen geliefert, die nun klarstellen, dass man sich offenbar ernsthafte Gedanken gemacht hatte.
Man findet hier den Hinweis, dass Hengelbrock obendrein zu Beginn der Vierten vier bisher ungenutzte Takte verwendet, die laut Booklet auch von Joseph Joachim genutzt wurden, was deswegen vielleicht nicht kritisiert werden muss. Durchaus mal anerkannte Sonderheiten vorzubringen, ist bestimmt nicht eitel.
Wer also über den sicheren Grundstamm klassischer Hauptinterpretationen zu Brahms hinaus Geld locker machen kann, um eine naturmalerische Weiterentwicklung dieser Musik kennenzulernen, könnte sich diese Aufnahmen zulegen.