5 von 5
jommelli
Top 50 Rezensent
30. Mai 2020
Gesamteindruck:
5,0 von 5
Künstlerische Qualität:
5,0 von 5
Repertoirewert:
3,0 von 5
Herausragende Produktion!
Mit Gismondo liegt nun schon die dritte von M.E. Cencic produzierte und gesungene Vinci-Oper vor. Cencic verkörpert hier die Titelrolle, die allerdings von Umfang und Anspruch her nur die eines secondo uomo ist.
Gismondo wurde wie die beiden anderen 2012 und 2015 eingespielten Opern, Artaserse und Catone, in Rom von Kastraten (auch in den weiblichen Rollen) uraufgeführt. Sehr gut fand ich die Entscheidung, diesmal „echte“ Frauen zu besetzen und so das Vokalspektrum deutlich zu erweitern. Warum man die Rolle des Bösewichts Primislao auch einer Sängerin zugedacht hat, verstehe ich hingegen nicht ganz. Von Vinci als Komponist bin ich noch nie besonders begeistert gewesen. Zu glatt, routiniert und eingängig erschien mir seine Musik zumeist- und genau diesen Eindruck hatte ich auch hier wieder. Von den insgesamt 31 Nummern (nur je ein Duett und Terzett unterbrechen die Abfolge von Rezitativen und Arien, alle ausnahmslos in Dacapoform) stehen lediglich drei in Moll. Die um 1720 sehr modernen, elegant komponierten Floskeln und Manieren ähneln einander dann auf Dauer doch sehr. Kontrapunktische Verarbeitung oder Chromatik findet sich nicht oder nur andeutungsweise. Einige aparte Bläsersoli lockern den Streichersatz nur gelegentlich angenehm auf. Problematisch finde ich an vorliegender Oper auch das völlige Fehlen einer Tenor-oder Bassrolle, was das Klangbild (5 Soprane und 2 Alte- davon vier Countertenöre) noch monochromer als bei vielen anderen Barockopern macht. Musikgeschichtlich ist das Werk sicherlich von Bedeutung, da es bei vielen Arien Prototypen des galanten Stils vorstellt, die sich in modifizierter Form noch bis in die Mozartzeit gehalten haben. Insgesamt war es mir aber nicht möglich, das Stück an einem Tage und ohne Überspringen der meisten Seccorezitative, die oftmals länger als die Arien dauern, anzuhören. Bei Vinci merke ich persönlich immer, was man an Händel, Porpora, Pergolesi oder Hasse hat.
Die Interpretation der vorliegenden CD kann man hingegen nur in höchsten Tönen loben. Shootingstar dürfte der Countertenor Yuri Minenko als primo uomo Ottone sein, den man spätestens ab jetzt zu den Top 5 der Szene zählen darf. Alle anderen Sänger und Sängerinnen, darunter viele bislang noch wenig bekannte Namen, bewegen sich ebenfalls auf höchstem internationalen Niveau und es ist reine Geschmackssache, wer einem besser oder weniger gut gefällt. Makellos ist ebenfalls das temperamentvolle und präzise, aber nie überdrehte oder hektische Spiel des polnischen Originalklangensembles.
Besondere Beachtung sollte das liebevoll gestaltete dicke Beibuch (viersprachig!) finden, das ausführlich die verzweigten politischen und historischen Hintergründe des Librettos beleuchtet und sich auf dem Level eines profunden akademischen Geschichtsessays befindet, das zu lesen Zeit erfordert und wegen der kleinen Schrift recht mühsam, aber m.E. höchst lohnend ist.
Tatsächlich entpuppt sich die verwickelte Handlung, die vor dem Hintergrund der polnisch-litauischen Union von 1569 spielt, leider aber nur wieder als typisches Opera-seria-Libretto, das genauso gut im alten Persien oder China spielen könnte und mindestens so viel Gewicht auf amouröse wie auf kriegerische Unternehmungen legt. Nichts wirklich Neues also. Ich hätte es nach dem phänomenalen „Germanico“ von 2018 insgesamt viel interessanter gefunden, eine weitere bislang unbekannte Oper Porporas, den ich als Komponist wesentlich höher als Vinci einschätze, auszugraben. Dessen ungeachtet höchste Punktzahl für diese editorisch und musikalisch herausragende Produktion!