4 von 5
gemi:re
Top 25 Rezensent
17. Januar 2016
Gesamteindruck:
4,0 von 5
Künstlerische Qualität:
5,0 von 5
Repertoirewert:
4,0 von 5
Tchaikovsky con forza
Achtung!, so hat man das Violinkonzert von Tchaikovsky wohl noch nicht gehört:
Da dampft das Kolophonium und wirbelt der Staub des Gewohnten auf.
Wenn sich zwei höchst eigenwillige Extreminterpreten wie die Geigerin Patricia Kopatchinskaja und der Dirigent Teodor Currentzis mit seiner MusicaAeterna zusammentun, wird man keinen fein kalkuliert-kultivierten Wohlklang ala Mutter-Karajan erwarten können.
Und die Geigerin verweist auch auf ihre langen Vorbehalte gegen dieses vielgespielte und banal abgedroschene Virtuosenkonzert.
Sie und ihr Orchester mussten sich also etwas einfallen lassen bzw. neu erfinden, was nunmehr noch an musikalischem Geheimnis unter der allzu bekannten, höchst virtuosen Oberfläche steckt.
Dabei ist ein permanentes musikalisches Stop and Go des Klangflusses herausgekommen und ein ständiger Beleuchtungswechsel der thematischen Phrasen.
Viel akustisches Zoomen der Tempi und der Dynamik ist zu hören, was auf Dauer die doch schön schlichte thematische Einfalt, die Melodie der Musik stellenweise empfindlich stört. Wir hören in den Tuttis meist ein rasantes Drauflos, ein Rekordweltmeister-Gefidel an der Grenze noch sinnvoll hörbarer Artikulation, oder hauchend-scharrende Geigengeräusche in Zeitlupe, was ja
keinen Sinn mehr macht, wenn der Geigenton nicht mehr musikalisch, sondern häufig nur noch kratzbürstig klingt, beim sentimentalischen Slow-go von belanglosen Füllpassagen.
Die thematische Begleitung der Canzonetta von sehr schön gesungenen Bläserkantilenen klingt inszeniert und unangemessen betont, während der Violinpart dahinsäuselnd hauchig, oder, dann im Finale, rapido und molto vivacissimo, durch geräuschvolle Sforzato-ausbrüche exponiert wird. At least too much for comfort.
Jedoch, wem dies nach allzuviel Tchaikovsky Seeligkeit, als mal was andres als üblich gefällt, der kommt hier voll auf seine emusic-thrills. Allerdings nervt auf Dauer doch eine spürbar offensive Originalitätssüchtigkeit, es anders als viele andre zu machen. (Ein Brendel würde anregen, besser ein neues Konzert zu komponieren).
Jedenfalls genoss ich danach die ebenso flinke geigerische Noblesse des Heifetz, Oistrachs seriöse und klangschöne Vehemenz und Kremers forschende fantasievoll-differenzierte Berliner Einspielung.
Durchweg überzeugend jedoch sind die choreographischen Szenen der russischen Bauernhochzeit, der 'Les Noces' von Stravinsky, die er in Nachfolge seines 'Sacre' noch 1914 in der Schweiz begann, erst 1923 als Bühnenwerk abschloss.
Die MusicaAeterna unter Currentzis bieten diesen heidnisch-christlichen Stoff in vier Szenen mit vierstimmigem Chor, einem Solistenquartett und grossem Percussionsensembel im Sinne einer derben, ländlichen Hochzeitsfeier musikalisch-dramatisch sehr ausdruckstark und weniger raffiniert gestylt, musikalisch stringent und gestalterisch-szenisch adäquat.
Hier nimmt man überzeugt wahr, welch ein toller Theatermann Currentzis ist.
Leider wird diese rare wie sehr erfreuliche Teil-Darbietung wohl weniger Zuspruch finden, als das populäre Violinkonzert, mit dem man hier, sicherlich völlig unbeabsichtigt, Hanslicks provokantem Wiener Verdikt, man könne sich erstmals vorstellen, Musik stinken zu hören, alle Ehren erweist.