4 von 5
jommelli
Top 50 Rezensent
02. Juli 2020
Gesamteindruck:
4,0 von 5
Künstlerische Qualität:
4,0 von 5
Repertoirewert:
3,0 von 5
Licht und Schatten
Das vorliegende erste Solo-Album des jungen venezolanischen Sopranisten ist darum so besonders, da der Sänger wegen eines hormonellen Defektes nie einen Stimmbruch erlebte und daher einen Stimmtypus vertritt, den man als „natürlichen Kastraten“ bezeichnen könnte. Marino ist keineswegs der einzige Sänger, auf den das zutrifft. Der 1992 verstorbene und durch seinen Auftritt in „gefährliche Liebschaften“ bekannt gewordene Brasilianer Paolo Abel do Nascimento oder der moldawische Sopranist Radu Marian gehören in dieselbe Kategorie. Doch verfügte keiner der vorgenannten Künstler über einen so großen Stimmumfang und eine derart stupende Koloraturtechnik wie der erst 27-jährige Südamerikaner. Zunächst war ich völig baff, dass ein Mann sich so mühelos in schwindelnde Sopranhöhen begeben kann und dabei die Koloraturen makellos perlen und glitzern. Doch schon bald hat sich der erste Überraschungseffekt abgeschwächt und es stellt sich die Frage nach der musikalischen Gestaltung jenseits des Showeffektes. Und hier habe ich festgestellt, dass bei dem jungen Künstler doch noch viel Luft nach oben ist. Gerade die getragenen Arien werden rasch etwas langatmig und die sehr hohen Spitzentöne gelingen dann doch nicht ohne eine gewisse eisige Schärfe. Am meisten aber hat mich die noch nicht sehr entwickelte Fähigkeit zu abgestufter Dynamik und messa di voce irritiert. Alles läuft perfekt, aber oft nicht zu Herzen gehend ab. Insgesamt fehlt Marinos Stimme Wärme und Modulationsfähigkeit. Vergleicht man ihn mit dem etwa gleichaltrigen Orlinski, der über viel weniger spektakuläres Material verfügt, wird schnell klar, dass der sympathische junge Künstler noch einen weiten Weg vor sich hat. Man kann ihm nur weiterhin gute Lehrer und umsichtige Agenten wünschen, damit sein grandioses Talent nicht zu schnell und zu Lasten der Stimme verbraucht wird.Relativ unbefriedigend erschien mir der orchestrale Part der Aufnahme. M. Hofstetter wählt oft zu schnelle Tempi und das Händelfestspielorchester Halle erweist sich was Präzision und Klangfarbenreichtum anbelangt, bei allen Qualitäten insgesamt nicht als absolutes Spitzenensemble. Vieles liegt auch an der reichlich verwaschenen Akustik. Lächerlich und durch nichts zu belegen sind die albernen Tambourin-Begleitungen bei zwei Händelarien. Wozu und warum? Sehr schade fand ich auch, dass man bei über 70 Minuten Spielzeit nur magere 20 Minuten für Gluck-Weltpremieren verwendet hat- doch allein für diese herrlichen Arien lohnt die Anschaffung, man hätte aber gern mehr davon gehört! Das Booklet ist eine Frechheit, da man bei Orfeo anscheinend zu geizig und faul war, Texte und Übersetzungen abzudrucken, was eines Qualitätslabels unwürdig ist. Eine hochinteressante, beeindruckende, aber m.E. keineswegs vollendete Cd-Premiere!