5 von 5
JAW-Records
05. Januar 2015
Gesamteindruck:
4,0 von 5
Künstlerische Qualität:
4,0 von 5
Repertoirewert:
5,0 von 5
EINE Möglichkeit der Realisation
Was nicht so alles in Rezensionen Abwertendes und Bitteres geschrieben wird, sei es über Harnoncourt oder die Wiener Phiilharmoniker - und wohl aus welchen tendenziellen Gründen?
Harnoncourts Aufführung der ersten drei Sätze der Neunten ist gut genug um trotz manch unwürdiger Kommentar darüber die Aufführung nicht verteidigen zu müssen. Ich persönlich bevorzuge andere Einspielungen wie die Klemperers oder Guilinis mit dem CSO. Das Besondere dieser Aufführung hier ist natürlich die Art der Realisierung des Finales anhand der vorhandenen Skzzen (egal ob dabei nun alle verwertet werden oder nicht) in einem Gesprächskonzert.
Um dieses umstrittene Finale dreht sich auch diese Besprechung. Ich möchte ein paar Hintergrundinformationen zur Bruckner Neunten beisteuern. Manche davon sind auch auf der CD in Harnoncourts Worten formuliert. Die fünf Sterne sind auch dem Willen dieser CD-Produktion gezollt und dem Weg Harnoncourts, eine intitiale Bewegung in die Frage um Bruckners Neunte zu bringen. Aber auch das Spiel der Wiener in desem Finale ist äußerst klar und farbig, die Klangrede überzeugend und die Aussagen stark und überzeugend!
Nun ein paar Fakten:
Im Falle der letzten Bruckner-Sinfonie gibt es kein vom Komponisten fertiggestelltes Finale, leider noch nicht einmal als durchgehende Skizze. Es ist nicht ganz geklärt, wie weit Bruckner mit seinem Finale gediehen ist. Die Spekulationen reichen von einem gut ausgearbeiteten klaren Particell bzw. Partitur bis in die Coda hinein bis zur Vermutung einer im Grunde fertiggestellten Komposition. Was feststeht ist, dass viele Notenblätter von Bruckners Arbeit am Finale von Souvenirjägern quasi an dessen Totenbett geraubt wurden. Einiges davon ist über die letzten Jahrzehnte wieder aufgetaucht. Es kann also durchaus sein, dass noch mehr Material dazu auftaucht und irgendwann der Punkt erreicht ist, dass die Komposition (mit Vorbehalten) wie die Mahler 10te als schlüssige Aufführungsversion (im Sinne von Deryck Cooke) fertiggestellt werden kann. Eine vollendete Neunte aus den Händen Bruckners werden wir nie hören, bestenfalls eine mehr oder wenige ausgearbeitete Arbeitspartitur.
Der momentane Stand erlaubt schon halbwegs schlüssige Varianten bis in die Reprise des Satzes hinein. Von der Krone der Werks, der alles entscheidenden Coda, gibt es außer mündlichen Anmerkungen allerdings nach wie vor keine wirklich für eine Rekonstruktion verwertbare Note.
Nebenbei bemerkt: Auch die ersten drei Sätze sind nicht "vollendet", da Bruckner nach Fertigstellung des Werks das Gesamte nochmals durchgesehen, revidiert und vielleicht Wesentliches geändert hätte!
a) Bruckners "Neunte" ist ohne Finale ein unvollendeter Torso! Wer behauptet die Neunte sei in ihrer Dreisätzigkeit vollkommen, redet sich die Sache schön ...
b) Eine seriöse vollständige Aufführungsversion kann nicht erstellt werden, besonders da für die letzten ca. 7 Minuten jegliches Notenmaterial fehlt.
Wie nun in der Praxis mit den Fakten umgehen? Die Möglichkeiten:
1. Die Neunte dreisätzig aufführen mit eindeutigen Informationen zur Rezeption und Konzeption des Werks im Programmheft bzw. CD-Textheft. So wird zumindest die Dimension der Werks angesprochen und die Illusion einer dreisätzig vollendeten Neunten findet ein Ende.
2. Eine Aufführung als Werkstattkonzert, so wie es Harnoncourt hier getan hat. Dabei wird nur das vorhandene authentische Material Bruckners verwendet. Der Zuhörer bekommt genauen Einblick in den Stand der Forschung und kann sich von den Fragmenten faszinieren und seine Phantasie anregen lassen.
3. Eine „normale“ Aufführung mit der Exposition des Finales. Die Exposition benötigt nur wenige Retuschen, da sie vollständig vorliegt. So bekommt der Hörer einen Eindruck von der Idee des Finales mit den Hauptthemen in einer quasi „abgebrochenen“ Aufführung.
4. Eine Aufführung mit Hilfe fremder Hand bis zum Reprise erweitertem Finale. Das erfordert nur ein paar frei hinzugefügte Takte und es existieren schon zwei sehr befriedigende Fassungen. Auch wenn hier das Reich der Spekulation betreten wird, so bekommt der Hörer doch einen großen Eindruck des Finales, je nach dem zwei Drittel bis drei Viertel des Satzes.
5. Eine Aufführung mit einer der Versionen des „vervollständigten“ Finales durch Musikwissenschaftler / Komponisten. Das letzte Viertel ist allerdings frei komponiert, im besten Falle nach den mündlichen Angaben über die Themenverarbeitung der Coda. So verlockend es ist, im Konzert oder auf CD vier abgeschlossene Sätze zu hören: Es ist genauso eine Illusion wie die vollendete dreisätzige Version.
Ich persönlich präferiere die Varianten zwei bis vier. Die erste bietet keine Vision fürs Ohr und die letzte zu wenig Bruckner. Eine sechste Variante wäre Bruckner „letzter Wille, falls das Werk unvollendet bliebe“: die Aufführung der Exposition mit abschließendem Te Deum oder nur dem Te Deum als Abschluss der Sinfonie. Allerdings war Bruckner ein Pragmatiker und es stellt sich die Frage, ob er mit diesem „Notbeschluss“ (von dem man nicht weiß, ob er überhaupt greift) nur eher die Aufführung der Sinfonie ermöglichen wollte als dem Werk zu einem stimmigen Abschluss verhelfen. Außer der offensichtlichen Widmung an den lieben Gott ist den beiden so unterschiedlichen Werken wohl nichts gemein.
Nun doch noch ein paar Abschlussgedanken:
Vielleicht sieht Harnoncourt die Frage der Neunten etwas zu (str)eng, so wie sie die "Vollender" (noch) zu sorglos betrachten. Ist nicht die Kreativität von Deryck Cooke im Falle der Mahler 10ten ein überzeugender Beweis für Synergie? Hat eine Komposition nicht auch ein Eigenleben - unabhängig vom Komponisten? Und wie sieht es mit der Wahrhaftigkeit der Aussage in der Konsequenz aus? Führt Harnoncourt nun die Neunte prinzipiell mit den Fragmenten zum Finale auf?