4 von 5
griba
09. März 2020
Gesamteindruck:
3,0 von 5
Künstlerische Qualität:
3,0 von 5
Repertoirewert:
3,0 von 5
Typisch Renè Jacobs!
Der in seiner Zeit sehr beliebte Text der Brockes-Passion [Hamburg 1712] wurde von einer ganzen Reihe hochrangiger Komponisten in Musik gesetzt, darunter z. Bsp. Stölzel [1725], Keiser [1712] oder Händel [1716].
(Heute wirkt der Text auch für Barockliebhaber doch sehr exaltiert.)
Für Johann Sebastian Bach war er eine unverzichtbare Textquelle für seine Johannespassion und er führte wohl die Brockes-Passion sowohl in der Fassung Telemanns [mutmaßlich 1739], als auch Händels [späte 1740er Jahre, evt 1746] in Leipzig auf.
Da verwundert es nicht, daß auch Georg Philipp Telemann 1716 diesen Text vertonte. Die telemannsche Komposition dürfte wohl die effektreichste, dramatischste, opernhaftigste und explosivste Vertonung sein.
Er kostet jeden noch so kleinen Affekt aus, stellte diese sehr intensiv dar, erfindet eine Fülle von unglaublichen orchestralen Farben mit einer größtmöglichen Fülle an Instrumenten und dramatischen Effekten.
Es verwundert kaum, das Renè Jacobs sich diesem extrem Werk annahm und dieses Werk, wie immer, in seiner sehr speziellen exzentrischen Weise interpretiert, als hochdramatische, exaltierte Oper.
Wiedereinmal sind die Solisten exquisit ausgesucht und wie bei Renè Jacobs auch immer eine sehr spezielle persönliche Wahl. Solisten, Chor und Instrumentalisten sind hervorragend disponiert, folgen in jedem dramatischen Extrem der Idee Renè Jacobs. Aufnahmetechnisch ist die Aufnahme hervorragend aufgestellt.
Renè Jacobs geht, wie Telemann, jedem Affekt nach.
Kostet Telemann vom Text her in seiner Komposition schon jeden Affekt
maximal aus, so macht es ihm Jacobs zumindest gleich, ja er versucht ihn interpretatorisch geradezu zu übertrumpfen!
Dies genau ist dann aber auch das Kernproblem.
Obwohl alles technisch perfekt ist und keine Wünsche offen bleiben,
wirkt es oft wie eine stark überzeichnete Karikatur, dadurch anstrengend.
Weniger ist durchaus mehr!
Unverständlich bleiben einem aber die Striche, gut zwei Rezitative und sechs Arien wurden von Renè Jacobs geopfert. Jacobs hat dies aus angeblich dramaturgischen Gründen gemacht, mehr zu den Gründen verrät er im Booklet leider nicht. Im Booklet werden einem die Text der gestrichenen Stücke leider auch vorenthalten. Sehr, sehr schade!
Somit bekommt man nur ein Torso der Brockes-Passion geliefert. Im Grunde muß man die Aufnahme in allen Punkten mit der höchsten Punktzahl bewerten, wären da nicht die Übertreibungen, der überangagierte Interpretationsansatz, dies muß mit einem deutlichen Punktabzug für das Künstlerische einhergehen.
Durch die Striche ist der Repertoirewert leider sehr klar geschmälert.
Ganz klar, eine hoch interessante und spannende Aufnahme,
genauso klar ist aber auch, es gibt unverzeihliche Mängel.
Knapp daneben ist eben auch vorbei, schade.
Der Liebhaber barocker Passionskompositionen wird trotzdem
auf sein Kosten kommen, wenn auch mit einem weinenden Auge.