Umfassend und zum Teil zu des Hörers hoher und höchster Freude
Diese Besprechung schreibe ich ohne jegliche Einschränkungen, also nicht nach dem Motto „so eine sehr preisgünstige Sammelbox setzt mildernde Umstände voraus“. Dass in so einer großen Box mit 30 CDs nicht jede Einspielung eine Erleuchtung sein kann, ist natürlich auch klar.
Ich versuche mit den Ohren des Musikers und Musikliebhabers, manchmal anhand von Vergleichen, oft aber nur aus dem Empfinden und meiner Phantasie im Musikdialog heraus, die Einspielungen zu erfassen.
Leider sind der Platz hier wie auch die Zeit des Rezensenten begrenzt: Somit wird manches sehr ausführlich, anderes wiederum nur äußerst knapp behandelt.
CD1: Sinfonien Wq 183, Nr.1-4 und Cembalo-Konzert Wq 43, Nr.4 ----- mindestens ***** Sterne !
Didier Talpain (2007) und die Solamente Naturali eröffnen die Box auf überzeugendste Weise – in bisher nicht überbotener Weise wie ich finde. Ich kann diese Hamburger Sinfonien mit mancher Konkurrenz vergleichen: Koch (1971) klingt dagegen nur hausbacken und gepflegt uninspiriert, auch Haenchen (1986) ist obwohl „historisch informierter“ durchaus langweilig für meine Ohren. Etwas breiter und sehr kontrolliert und somit langatmig, aber dennoch farbig und detailreich ist die Einspielung mit Leonhardt (1988). Was die aufsässige Frische in etwas ruppigem aber nicht manieriertem Ton angeht, hat der Franzose Talpain mit seinem wunderbaren Ensemble aus Bratislava eindeutig die Nase vorn. Die Musik spricht so deutlich wie bei keiner anderen der genannten Einspielung, alles ist absolut musikalisch „erfüllt“ im doppelten Sinne. Die „Akademie für Alte Musik“ hat nur die WQ 183, Nr.1 eingespielt, die ist aber eine tolle Alternative …
Das Solo-Cembalo im Konzert hat einen schönen farbigen und auch kräftigen Ton und die gesamte Interpretation ist in ihrer Andersartigkeit (auch des Aufnahmeklangs) eine ebenbürtige Alternative zur Einspielung von Staier (in alter tieferer Stimmung). Was dort allerdings im eineinhalbminütigen langsamen Satz gezaubert wird ist eine Klasse für sich …
Was mit zudem sehr an dieser Aufnahme gefällt ist der Klang: Man hört deutlich einen kleinen angenehm eher trocken aber nicht stumpf klingenden Saal, der kein Detail in der Farbigkeit verschluckt. Die Farbigkeit der historischen Holz- und Blechblasinstrumente ist perfekt eingefangen. Eine ganz großartige Aufnahme !
CD2: Berliner Sinfonien Wq 179, 181, 174, 175, 178 ----- *** bis**** Sterne
Hartmut Haenchen und sein Kammerorchester „Carl Philipp Emanuel Bach“ spielen makellos, aber auch etwas distanziert. Der erste Satz der Es-Dur Sinfonie Wq 179 könnte wohl wie ein Sturm daherkommen, was hier aber (wie auch in der etwas farbigeren, aber in den Streichern noch eckigeren Einspielung mit der „Akademie für Alte Musik Berlin“) nur als ein schnelles hin und her der Gegenbögen rüberkommt. Ob das in solch einem Tempo als ein konsequent mutiges Sautillé oder Détaché mal ein Orchester spielen wird? Ich denke nur so weicht das Vorsichtige und somit leicht nervig starr Mechanische ausdrucksvollen Wellenbewegungen mit mutigem Crescendo und Decrescendo.
Wenn auch nicht so überzeugend wie Talpain auf CD1 hat aber Haenchen in den Sinfonien Wq 179 und Wq 181 keine wirkliche Konkurrenz (auch nicht von der neuen Zacharias-CD bei MDG). Somit bin ich froh über diese Einspielung dieser beiden Sinfonien. Die restlichen vier Sinfonien sind gut, fein und sehr vornehm, haben aber Vergleiche auszuhalten, die mehr das Wilde, Neue und „Unerhörte“ betonen:
Die Sinfonie Wq 178 finde ich von der „Akademie für Alte Musik“ bis jetzt unerreicht. Schön aufsässig ist auch die Einspielung mit Ludger Rémy (zudem die Sinfonien Wq 178, 173, 175, 174, 180) bei JPC.
CD3: Sechs Sinfonien Wq 182 Nr.1 – 6 ----- **** Sterne
Wieder hat Hartmut Haenchen wenig Konkurrenz: Pinnocks Klangbild ist etwas rauher (gute Einspielung), „Café Zimmermann“ sehr quecksibrig (gut, aber ein wenig „aktionistisch“ - und nur die Nr. 1,3,5,6 eingespielt), Hengelbrock und das Freiburger Barockorchester mit klaren Klängen, weniger auf Effekt als sehr gelungen auf Tiefe setzend (aber nur die Sinfonien Nr.3, 4 und 5 eingespielt), Hoogwood ist nicht gut … Somit ist, wenn man den etwas volleren saftigeren“ Streicherklang mag, Haenchen ganz vorne…
Ich persönlich hoffe da noch auf DIE Aufnahme …
CD4: Oboekonzerte Wq 164 und 165, Oboensonate Wq 135 ----- *** Sterne
Das Besondere dieser Aufnahme mit Anna Starr (Oboe) und der „Musica Poetica“ ist, dass sich das Ensemble nur aus einem Streichquartett plus Kontrabass und Continuo zusammensetzt. Das Wort Konzert gewinnt eine ganz intime und kammermusikalische Bedeutung - ein Wechselspiel zwischen einem Solo-Instrument und wenigen anderen anstelle eines Orchesters. Die kleine Besetzung gibt besonders den sehr innigen und auch tiefsinnigen langsamen Sätzen eine ganz intensive und „unkörperliche“ Gestalt. Auf der anderen Seite geht dadurch leider die Konstanz der Linie und auch die Tiefe und Fülle des Raums etwas verloren.
Die Solistin spielt auf einer Oboe mit alter Mensur (ein Nachbau?) und ohne jegliches Vibrato. Für manche Ohren ist das sicherlich etwas gewöhnungsbedürftig, denn das Ergebnis ist eine Spielweise wie auf einer Block- oder Traversflöte, wo auch gern das Ausdrucksmittel einer „verzogenen“ Intonation verwendet wird: Töne werden "gebogen". Auch wenn diese Spielweise im Prinzip bereichernd ist und den Höreindruck verstärken kann, so finde ich den Einsatz dieses Effekts durch Anna Starr teilweise oder sogar per se für etwas manieriert, da er permanent eingesetzt doch schnell an Wirkung einbüßt. Vielleicht verliert man als Spieler bei diesem Ansatz der Tonbildung irgendwann den Bezug zu einer exakten Intonation (besonders in der Tiefe und Höhe) … Ein Urgrund von stabilen Tönen mit gutem Pitch (Tonhöhe) hätte mich mehr angesprochen.
Der Ton ist manchmal etwas rau angeblasen, was eine schöne Klangcharakteristik ergibt. A propos Charakteristik: Oboe und Cello sagt man ja die größte Ähnlichkeit zur menschlichen Stimme nach. Freunde eines gesanglichen Oboentons im (heutigen) Sinne der großen amerikanischen Meister wie Ray Still oder John DeLancie (aber auch der Europäer wie Albrecht Mayer) werden hier aber „umhören“ müssen: Es gibt durchaus Gesangliches, aber mit den Mitteln des Schwellens und der Phrasierung und nicht mit durchgängigem starken Ton. Die Klangrede ist hier wichtiger als die Tonschönheit – und dagegen ist auch nichts einzuwenden.
Eine schlichte aber sehr inwendige gute Alternative (mit graden Tönen und Orchester) bei Wq 165 ist Hans-Peter Westermann mit dem Freiburger Barockorchester.
CD5: Flötenkonzerte Wq 22 (original f Flöte), Wq 164 u 165 (beide original f Oboe) ----- *** bis **** Sterne
Klangschön und elegant von Machiko Takahashi auf einer modernen Flöte gespielt und auch stilsicher mit schlankem klaren Ton vom Concertgebouw Chamber Orch. unter Roland Kieft begleitet, allerdings hie und da mit etwas (für mich) unmotivierten Temporückungen (oft einen guten Tick schneller) in dem Tuttieinsätzen. Dennoch eine Aufnahme die bei mir einen Eindruck von Beliebigkeit hinterließ. Bei den Mittelsätzen der originalen Oboenkonzerte ist da auf jeden Fall „mehr drin“ ...
Im Grunde gibt’s hier ja nur EIN Flötenkonzert zu hören, das bekannte Wq 22. Und die „richtigen“ Flötenkonzerte? Alternativen gibt’s nicht viele: Patrick Gallois - nein, James Galway - ebensowenig … vielleicht Alexis Kossenko, Rachel Brown oder Stephen Preston (alle auf Traversflöte)
CD6: Flötenkonzerte Wq 167, 168 und 169 ----- *** Sterne
Eckard Haupt, Flöte – und wieder haenchen und sein Orchester.
CD7: Orgelkonzerte ----- *** bis **** Sterne
Eine „typische“ Aufnahme Haenchens in seinem großen Engagement für Carl Philipp Emanuel Bach: Musikalisch ausgefeilt und solide, in gutem Klang (auch aufnahmetechnisch, angesichts der Orgelkonzerte logischerweise mit dem Raumklang einer Kirche). Allein die Solo-Orgel (Solist Roland Münch) hätte ich mir gern etwas näher gewünscht. Aber so ist exakt das Klangbild, das dem Zuhörer in der Kirche entgegen kommt. Auch wenn der Ansatz des Musizierens mittlerweile etwas überholt sein mag, so ist die Aufnahme von vitaler Schönheit geprägt und in sich völlig stimmig.
Eine Alternative ganz anderer Art, der ich persönlich den Vorzug geben würde: Rainer Oster (Orgel) und das Ensemble Parlando haben diese Konzerte im historisch informiertem Klang und Spielweise bei DHM für mein Empfinden mit etwas mehr Farbigkeit und Frische erfüllt, auch in einem direkteren Klang aufgenommen. Das tut der guten hier besprochenen Aufführung aber keinen Abbruch - es sind zwei verschiedene Welten.
CD8: Cellokonzerte ----- *** bis **** Sterne
Raphael Wallfisch und das Scottish Ensemble verfolgen einen ganz anderen Ansatz als Bylsma mit Leonhardt. Somit ist diese Aufnahme eine Alternative, wenn vielleicht auch die etwas schwächere.
CD9: Cembalokonzerte Wq 3, 6 und 14 ----- **** Sterne
Pieter-Jan Belder und Musica Amphion bieten hier eine echte Alternative zur Gesamteinspielung mit Andreas Staier. Letztlich würde ich mich aber für Staier mit den Freiburger Barocksolisten entscheiden, denn da ist doch noch mehr Schattierung und Charakter drin.
CD10: Flötenkonzert Wq 22, Wq 108, Quartett Wq 93 und Trio Wq 159 ----- *** bis **** Sterne
Stefano Bagliano spielt alle Werke auf Blockflöte (in Wq 159 auf Bassblockflöte) in souveränem, ganz natürlich wirkendem Musizieren. Einzig etwas unangenehm fielen mir immer wieder an Phrasenenden ungestützte „abschmierende“ tiefe Schlusstöne auf. Wie auf CD4 eher kammermusikalisch wirkende Aufführung. Wer nur die Sinfonien und großen Konzerte von C.Ph.E. Bach kennt und schätzt: Diese Stücke hier bewegen sich in einem kleineren Rahmen, alles scheint ruhiger und verinnerlichter als in den anspruchsvollen Sturm und Drang Werken.
CD11: Duette und Trios ----- ***** Sterne
Das italienische Helianthus Ensemble präsentiert hier vielleicht mit die schönste CD dieser Edition. Klangschön, ausgefeilter Klangrede, spieltechnisch einwandfrei (auch die Intonation der Traversflöte) – und mit viel Ruhe für Phantasie … bravo!
CD12 und 13: Flötensonaten ----- **** Sterne
Jan Wentz, Traversflöte spielt mit Musica ad Rhenum sehr einfühlsam und farbig im Klang.
CD14: Musik für Viola da gamba ----- *** bis **** Sterne
Paolo Pandolfo, Gambe und Rinaldo Alessandrini, Cembalo lassen sich tendenziell Zeit (einen Gambisten kann man auch nicht hetzen), wobei es durchaus auch sehr Flottes gibt. Von der Farbigkeit des Spiels her wäre - ebenso wie bei CD15 – da aber noch mehr drin. Schade, da bleibt dann halt manches der Phantasie des Hörers als Nachklang überlassen. Vielleicht liegt es auch an der etwas pauschalen Aufnahmetechnik.
CD15: Sonaten für Tasteninstrument und Violine ----- *** bis **** Sterne
Federico Guglielmo, Violine und Roberto Loreggian, Cembalo spielen routiniert. Passend dazu hat die Aufnahmetechnik “mittlere Distanz” – und selbige nehme ich auch zu dem Spiel ein …
CD16: Preussische Sonaten (siehe CD19-23) ----- **** Sterne
CD17 und 18: Württembergische Sonaten (sieheCD19-23) ----- **** Sterne
CD19 bis 23: Sonaten für Kenner und Liebhaber I bis V ----- **** Sterne
Preußische und Württembergische Sonaten und eine bunte Mischung aus Sonaten Fantasien, Rondos usw - gespielt von Pieter-Jan Belder auf verschiedenen Instrumenten vom Cembalo bis zum Fortepiano. Das ist eine gute Idee, denn es gibt der Stückesammlung zusätzliche Abwechslung und Farbe.
CD24: Sinfonien für Tasteninstrument ----- *** Sterne
Bearbeitungen von Sinfonien für Cembalo. Besonders erinnert man das „Wiederhören“ mit Wq 178, jetzt als Wq 122. Da ist doch etwas Begrenztes im an sich souveränen Spiel von Chezzi zu spüren. Vielleicht ist es auch einfach die Farbigkeit des Orchesters, die man schon im Ohr hat und die das Cembalo natürlich nicht erreichen kann. Der Klang der Aufnahme ist OK.
CD25: Geistliche Lieder ----- **** Sterne
Diese Darbietung hat einen starken eigenen Reiz. Der Inhalt der Texte ist gefühlt und deutlich „gesung-sprochen“… quasi als ganz normaler Gesang aus dem Volk, was im Grunde sehr gut passt, da die Lieder betont schlicht und in nicht großem Tonumfang gehalten sind! Ob das so beabsichtigt war? Das hat etwas Unheimliches, da irgendwie das Hören aller „Künstlichkeit“ beraubt und somit plötzlich so nah bei mir als Hörer ist …
CD26: Sinfonien Wq 173 und 180, Magnificat Wq 215 ----- *** Sterne
das Magnificat mit Haenchen ist OK, wobei es mir stellenweise zu sehr „abschnurrt“ oder zu eckig ausgeführt wird. Geistliche Musik ist wirklich schwer überzeugend und bewegend rüberzubringen, da dazu die Vision für das Stück UND für den religiösen Inhalt da sein muss. Da kann man anscheinend nicht so tun als ob … Schreier hat einen Trompeter als Bruder – manchmal denke ich unfein daran, wenn er singt … Aber auch die anderen Solisten können nicht wirklich berühren. Der Chor ist gut – daran liegt es nicht.
CD27 und 28: Kantaten ----- *** bis **** Sterne
Hermann Max und das Ensemble „das kleine Konzert“
CD29 und 30: Die Auferstehung und Himmelfahrt Jesu Wq 240 ----- *** Sterne
Eine ordentliche Aufführung des etwa 10minüten Werks, etwas inspirierter als Haenchens Magnificat. Aber auch Hermann Max fällt zeitweise in eine mechanische Starre, wo wohl nur Vision wohl über manche Längen retten könnte.
FAZIT: Ja – diese Edition kann man kaufen, wenn man einen tiefgestaffelten Überblick über das Schaffen von C.Ph.E. Bach gewinnen möchte und nicht allzu viel Geld ausgeben möchte. Ein paar CDs sind einzigartig (welche man sich auch einzeln zulegen könnte), einige sind gute Alternativen zu anderen Einspielungen – aber ein gutes Drittel der Edition „nimmt man in Kauf“ – im wahrsten Sinne des Wortes … Auch nicht jedes Stück des Bach-Sohns ist ein solitäres Meisterwerk …
Dennoch für diese Edition in der Gesamtleistung knapp vier Sterne!