Große Pioniertat – mit kleinen Schwächen: Eine vergleichende Besprechung
Der Zyklus der Sinfonien Bruckners mit dem österreichischen Dirigenten Georg Tintner ist in der Rezeptionsgeschichte eine Besonderheit, da hier in einer Bruckner-"Gesamtaufnahme" erstmals das Thema der Fassungen wirklich verstörend aufgerissen wurde - und somit (auch durch den günstigen Preis) ein Bewusstsein in der breiten Hörerschaft für die gravierenden Unterschiede der Fassungen geschaffen wurde. Es wird übrigens wohl noch dauern, bis es tatsächlich mal eine wirklich GESAMTAUFNAHME, also eine synoptische Einspielung aller mindestens 18 Sinfonien geben wird:
Studiensinfonie, 2 Fassungen der Ersten (plus ein zusätzliches Adagio und Scherzo), die Nullte, zwei Fassungen der Zweiten (mindestens), drei Fassungen der Dritten (plus mehrerer Adagios), drei Fassungen der Vierten mit der umstrittenen 1888-Fassung, die sich mittlerweile anfängt durchzusetzen (plus eine weitere Fassung des Finales), die fünfte, die Sechste, die Siebte, zwei Fassungen der Achten (plus der Haas-Fassung - sollte man fast mitzählen) und die Neunte mit Finale-Fragment.
Tintner hat in diesem Zyklus, den man getrost als Lebensaufgabe und eine Art Vermächtnis nennen darf, bis auf die Vierte (warum nur? schade) die frühen Fassungen verwendet und arbeitet dabei mit drei Orchestern. Zudem präferiert er sonst die alten Haas-Fassungen. Hier ein paar Worte zu den einzelnen Sinfonien und die Interpretation.
Bei allen Vergleichen ist bei den üblichen Fassungen auch immer Solti / CSO und ganz besonders der Zyklus mit Andreae als Alternative mit zu berücksichtigen !!!
ACHTUNG: Die ausdrücklich hier bei den Sinfonien angeführten Vergleiche sind ausschließlich die entsprechenden Fassungen, die auch Tintner verwendet hat.
Somit bleiben viele hervorragende Einspielungen der Sinfonien 1, 2, 3, 4 und 8 ungenannt!
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Studiensinfonie:
Eine breit ausladende „großorchestrale“ Auffassung dieses Werks, das doch so viel vom Geist Schumanns, Mendelssohns und auch etwas von Tschaikowsky in sich trägt – und somit eine m.E. leicht verfehlte Interpretation. Aber gut gespielt mit vielen orchestralen Entdeckungen – wie bei allen Sinfonien mit Tintner. Shapirra hat das - mit teilweise noch breiten Tempi aber anderem Charakter - mit dem LSO wesentlich überzeugender hinbekommen. Wurde leider noch nie offiziell von Emi auf CD veröffentlicht.
Sinfonie Nr. 1 (1866 unbearbeitete Linzer Fassung, Carragan Version):
Auch hier sehr breite Tempi, die dem „kecken Beserl“ nicht so sehr anstehen. Hier finde ich Venzago und ganz besonders Steinaecker spannender. Eine kleinere Besetzung, die den jugendlichen Charakter viel klarer und die Orchestrierung durchsichtiger hervorbringt. Wer es groß im Klang mag, dem sei die Jochum Einspielung mit den Berlinern (DG) empfohlen.
Sinfonie d-moll die „Nullte“ (ca. 1869):
Die Nullte entstand zwischen der 1ten und 2ten - ein reifes aber stilistisch vielschichtiges Werk. Vielleicht deshalb die halbherzige „Annullierung“ durch den Meister. Ein wiederum breite und gute Aufführung, da die „Nullte“ als Vorbote der 2ten, mir der sich manches im Komponierstil ändert, das schon „vertragen“ kann. Alternativen gibt es einige: Spruit (Privatpressung bei Klassik House), Beinum (ungemein feurig, Privatpressung bei Haydnhouse), in Stereo Verzago.
Sinfonie Nr.2 (1872 Fassung, Edition Carragan):
Eine sehr gute Aufführung! Ich finde nur schade, dass die Schlussformel des zweiten Satzes in der Fassung mit Klarinette und nicht mit Horn gespielt wird. Dadurch verliert dieses zauberhafte Satzende etwas. Diese Einspielung bewegt sich ganz vorne mit Blomstedt.
Sinfonie Nr.3 (1873 Fassung, Edition Carragan):
Bei der 3ten und 4ten gibt es für die Erstfassung zwei grundsätzlich verschiedene Ansätze der Interpretation: Entweder das Revolutionäre der Erstfassungen auch in Form der Ausdrucksanlage und der Tempi beibehalten oder an der Gesamtaussage / Gestalt tendenziell sonst nichts zu ändern. Tintner hat sich für das Letztere entschieden.
Seine Dritte ist eine wichtige Einspielung – ebenso wie in dieser „zweiten Art“ die von Nagano und Vänskä (mit dem wiederentdeckten Adagio), auf die „erste Art“ Norrington und Gielen.
Adagio von 1876 zur Sinfonie Nr.3:
Eine wunderbare Aufnahme, hat nur Konkurrenz in Vänskä.
Sinfonie Nr. 4 (Fassung 1881, Edition Haas):
Schon seltsam, dass Tintner hier die Haas-Fassung gewählt hat. Aber es ist wohl seine starke persönliche Vorliebe gewesen. Tatsächlich ist diese Aufnahme hier auch ganz besonders gelungen (auch orchestral) und trotz der großen Konkurrenz von Klemperer, Kertesz, Barenboim mit CSO, Solti und manch anderen möchte ich sie nicht missen.
Der Finalsatz „Volksfest“ (1878, Edition Novak) zur 4ten Sinfonie:
Eine maßstabsetzende Einspielung, momentan besinne ich mich auf keine Vergleichseinspielung…
Sinfonie Nr.5 (natürlich keine Schalk-Fassung, sondern original):
Hier hat Tintner einfach zu übermächtige Konkurrenz: Schuricht mit WPO, Klemperer, Gielen, Horenstein, Eugen Jochum mit dem Concertgebouw Orch, Georg Ludwig Jochum, Rosbaud, Harnoncourt … Dennoch eine gute Einspielung.
Sinfonie Nr.6 (Edition Haas):
Wie die 4te eine sehr gute Aufführung - hier mit den New Zealand Orchestra. Aber es gibt eben auch u.a. Klemperer, Keilberth, Steinberg und - hier mal extra erwähnt: Solti…
Sinfonie Nr.7 (Originalfassung 1885, Edition Haas)
Bei der 7ten ist es ähnlich wie mit der 5ten: Die großen Interpretationen durch Rosbaud, Beinum, Klemperer und ganz besonders Solti live mit dem CSO in London auf DVD lassen Tintners Einspielung kaum eine Chance.
Sinfonie Nr.8 (Urfassung von 1887)
Eine sehr gute Aufführung, die in dieser sehr breiten Lesart erst mit Nagano eine starke Konkurrenz bekommen hat: Nagano verfolgt aber ein anderes Ziel als Tintner, deshalb stehen sich diese Einspielungen letztlich nicht im Weg.
Sinfonie Nr.9 (Originalversion 1894, Edition Novak)
Bei der 9ten gibt es ja keine endgültige Fassung, da die 9te ohne das unvollendete Finale nicht vollständig ist. Dessen werde ich nicht müde zu betonen. Die Fragmente – zumindest die Exposition, gehört eigentlich zu jeder Aufführung der 9ten…
Tintner ist gut, aber die gleiche Situation wie bei der 5ten, 6ten und 7ten: Keilberth, Klemperer, Karajan (WPO 1976), Horenstein, Schuricht – vielleicht auch Harnoncourt .. Letzterer auch wegen des Werkstattkonzerts mit den Finale-Fragmenten.
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Auch wenn jetzt bei den vielen erwähnten „besseren“ Einspielungen der Eindruck von Mittelmäßigkeit bei Tintner entstanden sein sollte, so ist das nicht beabsichtigt. Als Zyklus kann meiner Meinung nach – aber auf ganz andere Weise - in der Durchdringung neben Tintner nur Volkmar Andreae und Solti bestehen. Jochum, Wand, Solti und Barenboim verwenden die gewohnten Fassungen. Die Aufnahmen mit dem CSO sind in orchestraler Hinsicht allerdings unschlagbar. Interessante neue Einsichten könnten zukünftig die Zyklen mit Venzago und Steinaecker bieten - falls Letzterer eine Gesamtaufnahme anstrebt.
FAZIT
Wer einen Zyklus in gut klingendem Stereo, orchestral ausgefeilt mit klarem Gesicht und in den immer noch wenig gespielten Fassungen hören möchte, der kommt um Tintner nicht herum. Dazu lädt natürlich auch der Preis zum Kauf ein.
Und warum die nicht die weiße, sondern die rote USA-Ausgabe? Ganz einfach, weil sie a) besser aussieht und eine zusätzliche CD mit Tintner über Bruckner enthält!