Erstes Buch aus der Sicht des Opfers einer narzisstischen Mutter. Ein Buch das Mut macht...
..in jeder Hinsicht. Nicht nur, weil der flüssige, sehr plastische Erzählstil den Leser bildreich in Gabis Leben entführt. Dieses Buch geht unter die Haut. Es verstört mehr als einmal, macht oft wütend und lässt einen so manches Mal mit einem Gefühl der Ohnmacht zurück. Ich weiß gar nicht mehr wie oft ich das Buch weggelegt hatte und schnaubend durchs Zimmer getigert bin ob der himmelschreienden Ungerechtigkeiten. Und dennoch: Dieses Buch ist auch ein Stück Hoffnung.
Gabi, der unerwünschte "Unfall", wächst als seelischer Fußabstreifer ihrer Mutter auf. Schon die alltäglichen Gemeinheiten und Erniedrigungen, die konsequente Vermeidung jeglichen Körperkontakts, die bewusste Verweigerung ärztlicher Versorgung selbst in lebensbedrohlichen Situationen machen einen fassungslos. "Merkst du nicht, was du deinem Kind antust" möchte man der Mutter am liebsten ins Gesicht schreien.
Dass sie es sehr wohl merkt, wird einem spätestens in dem Moment klar, wenn Gabi das frisch abgezogene Fell von "Flecki", den von Gabi großgezogenen Hasen, an die Scheunentür genagelt vorfindet. Als ihre Mutter dann auch noch in Gabis Zimmer auftaucht und kalt lächelnd den "guten Braten" lobt, den Flecki abgegeben habe, zeigt sich endgültig die perverse Genugtuung, mit der sie Gabi ganz bewusst quält. Gleichzeitig erfährt man auch einiges über die eigenen seelische Abgründe: In diesem Moment würde man selbst gerne zum Schlachter werden. Hand aufs Herz: Wer konnte dieses Buch lesen ohne mindestens einmal Mordgedanken gegen diese Mutter zu hegen?
Mehr als ein mal fragt man sich, ob denn niemand etwas merkt, warum keiner was unternimmt. Doch, einige bemerken, dass etwas nicht stimmt. Und manche sagen auch etwas. Doch seelische Grausamkeit ist schwer zu fassen und noch viel schwerer zu beweisen. Gabis Mutter tut auch alles, um jede Einmischung von außen zu verhindern. Je älter Gabi wird desto stärker wird sie von der Verwandtschaft isoliert. Als schließlich Gabis Vater stirbt, steht Gabi völlig ohne Rückhalt da. Fortan ist sie ihrer Mutter ausgeliefert. "Wenn du jemanden deine Lügen erzählst, lasse ich dich wegsperren" und "Dir glaubt eh keiner, es wissen alle, dass du verrückt bist" sind ab jetzt häufige Sätze, die Gabi zu hören bekommt. Also schweigt sie.
Auch als Gabi längst erwachsen und selbst Mutter ist, setzen sich die psychischen Attacken fort. Mehrmals bricht Gabi den Kontakt ab, schafft es aber nie, sich ganz von ihrer Mutter zu lösen. Viel zu tief sitzen die von klein auf anerzogenen Schuldgefühle. Das (eigentlich grundlose) schlechte Gewissen quält sie mehr als die Erniedrigungen. Daran ändert auch das "Mama du spinnst!" von Gabis Tochter Jessica nichts, die mit ihren zehn Jahren schon längst erkannt hat, dass von ihrer Oma nichts Gutes zu erwarten ist.
Als ihr zweiter Mann, Christian, in Gabis Leben tritt, kann man ihr Glück förmlich mit Händen greifen. Man schwelgt mit Gabi auf Wolke sieben, wünscht ihr all das Gute, das Happy End, das ihr bisher verwehrt wurde. Logisch, dass dieses Glück Neid und Missgunst auf den Plan rufen. Allerdings laufen von jetzt an die Boykottversuche von Gabis Mutter immer häufiger ins Leere.
Christian merkt sehr schnell, dass etwas mit Gabis Mutter nicht stimmt. Gabi davon zu überzeugen, dass nicht sie sondern ihre Mutter sich falsch verhält, gelingt aber auch ihm nicht immer. Wenn jemand von klein auf in der Überzeugung aufwächst, ein schlechter Mensch und an allem schuld zu sein, ist es schwierig ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Zumal weder Christian noch Gabi der Hintergrund bewusst ist. Man kann die Macht- und Hilflosigkeit nachfühlen, die Christian oft verspürt haben muss.
Auf das Thema "narzisstische Persönlichkeitsstörung" stoßen beide sehr spät und eher zufällig. Allerdings mit weitreichenden Folgen: Auch wenn Gabi bis zum Schluss hofft, wenigstens ein klein wenig Zuneigung von ihrer Mutter bekommen zu können, sie lässt sich dafür nicht mehr manipulieren. Störfeuer und Erniedrigungen zeigen bei weitem nicht mehr die gewünschte Wirkung. In dem Moment, als das Kind einen Namen hat und das Verhalten der Mutter durchschaubar wird, ist der Bann gebrochen.
Als die Mutter begreift, dass ihre Macht über Gabi schwindet, werden ihre Bemühungen immer verzweifelter. Bis hin zum großen Finale, dem penibel geplanten, beinahe perfekt inszenierten Showdown.
So sehr man es sich beim Lesen wünscht: Dieses Buch hat kein Happy End, jedenfalls nicht im "klassischen" Sinne. Es gibt keine Aussöhnung zwischen Gabi und ihrer Mutter, einfach weil eine Aussöhnung mit einem Menschen, der sich selbst als allmächtig, perfekt und unfehlbar begreift, schlicht unmöglich ist. Es gibt auch kein endgültiges Loslösen und selbst die tiefe Erkenntnis kommt im Grunde zu spät. Gabis Leben ist diesbezüglich beispielhaft aber kein Einzelfall.
Trotzdem gibt dieses Buch auch Hoffnung: Eine Frau, die von frühester Kindheit an gelernt hat, dass sie von Grund auf schlecht und nicht wert ist geliebt zu werden, hat letztendlich doch erkannt, dass sie von ihrer eigenen Mutter ihr Leben lang belogen wurde. Sie hat es geschafft, den Teufelskreis aus anerzogenen Schuldgefühlen und Erniedrigungen zu durchbrechen. Sie beweist, dass jemand, der ohne mütterliche Liebe aufgewachsen ist, trotzdem voller Liebe und Fürsorge für seine eigenen Kinder sein kann. Und sie hat den Mut, mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen und damit ein Tabu zu brechen: Sie zeigt schonungslos auf, dass Mutterliebe kein Naturgesetz ist. Dass eben nicht alle Mütter nur das Wohl ihrer Kinder im Sinn haben. Dass für manche Mutter das Kind nur ein Objekt zur Ausübung ihrer Machtgier und Befriedigung ihrer sadistischen Triebe ist. Es wäre lästig und überflüssig, wenn man es nicht zur eigenen Überhöhung brauchen könnte.
Ich hoffe, dass dieses Buch nicht nur Betroffenen selbst hilft, die richtigen Schritte zu wählen, sondern auch andere dazu bewegt, hin und wieder genauer hinzuschauen. Seelischer Missbrauch wirkt perfide, er ist nicht weniger brutal als der körperliche. Und genau wie dieser kann er nur so lange stattfinden wie diejenigen wegschauen, die etwas sehen könnten.
Mir jedenfalls lässt dieses Buch so manches seltsame Verhalten in neuem Licht erscheinen.
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